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Kultur - 13.06.2019

Anne Franks Romanfragment „Liebe Kitty“

Das jüdische Mädchen Annelies Marie Frank wurde als Tagebuchschreiberin Anne Frank weltberühmt. Zum 90. Geburtstag des Holocaust-Opfers erscheint die Romanfassung ihrer Aufzeichnungen als eigenständiges Werk.

Mit etwas mehr Glück und weniger menschlicher Schlechtigkeit hätte sie diesen Tag vielleicht erlebt. 90 Jahre alt wäre sie nun an diesem 12. Juni geworden. Vielleicht hätte sie im Kreis ihrer Nachkommen gefeiert, in Amsterdam, Frankfurt oder irgendwo in den USA, und es wäre nicht unmöglich gewesen, dass auch „Peter“ noch zu den Gratulanten gehört hätte. Jener Peter, der mit Anne Frank das Versteck im Amsterdamer Hinterhaus teilte und mit dem sie den ersten Kuss tauschte. Aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir Leser dann nie von diesem Jahrestag erfahren hätten.

Junge Tote bleiben immer jung, und so ist es auch mit Anne Frank. Sie wird für immer das 15-jährige Mädchen sein, das in ihrem Tagebuch den Ersatz für eine Freundin und Gesprächspartnerin suchte. Und das den einen großen Wunsch hatte: Sie wollte als Schriftstellerin leben. „Nach dem Krieg möchte ich unbedingt ein Buch mit dem Titel ‚Das Hinterhaus‘ herausbringen“, schrieb Anne am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Weniger als drei Monate später wurde sie zusammen mit den anderen sieben Versteckten deportiert. Sie starb im Februar 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen, an Fleckfieber, Erschöpfung und Unterernährung.

Anne Frank führte ihr Tagebuch auf Niederländisch

„Das Hinterhaus“ – erste Fassung eines Weltklassikers

Ihr Tagebuch aber blieb erhalten und wurde zu einem der bekanntesten und meistgelesenen Bücher der Welt. Otto Frank, Annes geliebter Vater, der als einziger aus der Familie das Konzentrationslager lebend verlassen konnte, erfüllte ihr Vermächtnis und editierte das vollgeschriebene rot-beige Tagebuch und viele lose Blätter, Aufzeichnungen auf der Rückseite von Rechnungen oder in Kontobüchern. Zwei Jahre nach Kriegsende, am 25. Juni 1947, erschien „Het Achterhuis – Das Hinterhaus“. Die erste Auflage von 1500 Büchern war schnell vergriffen.

Inzwischen gehört Anne Franks „Tagebuch“ in Deutschland zur unerlässlichen Schullektüre. Die bekannte Taschenbuchausgabe des Fischer Verlags findet sich in vielen deutschen Haushalten. Mirjam Pressler, die im Januar 2019 verstorbene großartige Übersetzerin und Autorin, hat diese Fassung gemeinsam mit Otto Frank erarbeitet. Ohne die Auslassungen, die Anne Franks Vater in seiner ersten Ausgabe aus Diskretion vorgenommen hatte, Abschnitte, die sich auf Anne Franks Mutter und Annes Gedanken zur Sexualität beziehen.

Erst 1986 auf Niederländisch, auf Deutsch 1988, erschien der vollständige, historisch-kritisch bearbeitete Text. Da war „Das Tagebuch der Anne Frank“ nach einer Hollywood-Verfilmung in den 1950er Jahren, weiteren Filmen und Theaterstücken in vielen Sprachen längst zu einem Weltklassiker geworden.


  • Wer war Anne Frank?

    Auf der Flucht vor den Nazis

    1933 flüchtet Anne Frank mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten aus Deutschland in die Niederlande. Im Zweiten Weltkrieg müssen sie untertauchen, um den Nazis zu entkommen. Sie leben zwei Jahre lang versteckt in einem Hinterhaus in Amsterdam – bis sie verraten werden: Am 4. August 1944 werden Anne Frank und ihre Familie entdeckt, verhaftet und nach Auschwitz deportiert.


  • Wer war Anne Frank?

    Familienbande

    Anne Frank (vorne links) hatte eine dreieinhalb Jahre ältere Schwester namens Margot (hinten rechts). Ihr Vater Otto Frank machte dieses Foto am achten Geburtstag von Margot im Februar 1934. Anne war damals vier Jahre alt und die Familie bereits im Exil in den Niederlanden.


  • Wer war Anne Frank?

    Versteck in Amsterdam

    Otto Frank, Annes Vater, konnte in Amsterdam die Niederlassung der Firma Opekta übernehmen. Als die Judenverfolgung einsetzt, richtet der Vater im Hinterhaus des Büros ein Versteck ein. Die vierköpfige Familie lebte dort von 1942 bis 1944, zusammen mit vier weiteren Verfolgten. Hier schrieb Anne Frank ihr weltberühmtes Tagebuch. Seit 1960 ist das Anne Frank Haus (Foto) ein Museum.


  • Wer war Anne Frank?

    Annes Versteck

    Im Anne Frank Haus in Amsterdam können Besucher das Hinterhaus, in dem sich Anne mit ihrer Familie versteckte, besichtigen. Monatelang musste das junge Mädchen ihr enges Zimmer mit dem jüdischen Zahnarzt Fritz Pfeffer teilen, den sie in ihrem Tagebuch „Albert Dussel“ nannte. Rechts ihr Schreibtisch, an dem sie fast jeden Tag schrieb.


  • Wer war Anne Frank?

    Tagebuch als beste Freundin

    Von Anfang an schreibt Anne fast jeden Tag in ihr Tagebuch. Es wird für sie zu einer Art Freundin, der sie den Namen Kitty gibt. Das Leben, das Anne im Versteck führt, ist völlig anders als die sorglose Zeit davor: „Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken“, ist dort zu lesen.


  • Wer war Anne Frank?

    Tod in Bergen-Belsen

    Anne Frank und ihre Schwester Margot werden am 30. Oktober 1944 aus Auschwitz nach Bergen-Belsen gebracht. In diesem Konzentrationslager kommen insgesamt mehr als 70.000 Menschen ums Leben. Nach der Befreiung des KZs werden unter Aufsicht britischer Soldaten die Opfer von Lastwagen zu den Massengräbern gebracht. Hier starben auch Anne und Margot Frank – an Typhus. Anne war erst 15 Jahre alt.


  • Wer war Anne Frank?

    Annes Grabstein

    In Bergen-Belsen steht auch der Grabstein von Anne. Das jüdische Mädchen aus Frankfurt am Main hatte sich ihr Leben anders vorgestellt: „Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“ – so lautet ihr Tagebucheintrag vom 5. April 1944.


  • Wer war Anne Frank?

    Berühmt durch ein Tagebuch

    Annes großer Traum war es, Journalistin oder Schriftstellerin zu werden. Dank ihres Vaters erscheint ihr Tagebuch am 25. Juni 1947. Der Titel: „Das Hinterhaus.“ Es folgen viele weitere Auflagen und Übersetzungen. Anne Frank wird zur Symbolfigur für die Opfer der Nazi-Diktatur. „Wir alle leben mit dem Ziel, glücklich zu werden, wir leben alle verschieden und doch gleich.“ (Anne Frank, 6. Juli 1944)

    Autorin/Autor: Iveta Ondruskova


„Liebe Kitty“ wird zum Bestseller

Aktuell stehen Anne Franks Aufzeichnungen über ihr Leben im Hinterhausversteck an der Spitze der Independent-Bestsellerliste, die Veröffentlichungen aus 160 unabhängigen Verlagen berücksichtigt. Dabei ist es, abgesehen von ein paar Notizen auf zwei zusammengeklebten Blättern, bereits 20 Jahre her, dass die letzten fünf bis dahin unbekannten Seiten entdeckt und dem Buch hinzugefügt wurden. Was also könnte neu sein und diesen aktuellen Erfolg des Klassikers begründen?

Im März 1944 forderte der niederländische Bildungsminister Gerrit Bolkestein über den illegalen BBC-Sender „Radio Oranje“ die Bevölkerung im besetzten Vaterland dazu auf, Briefe und Tagebücher aufzuheben. „Stell Dir mal vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman über das Hinterhaus herausbringen würde“, richtet sich Anne an ihre imaginäre Tagebuchfreundin Kitty. Danach muss sie wie besessen geschrieben haben. Bis zu jenem verhängnisvollen 4. August 1944, als die Polizeiaktion in der Prinsengracht 263 dem Leben im Versteck ein Ende machte, hatte sie 215 Blätter vollgeschrieben, um auf der Basis ihrer Tagebucheinträge eine erste, zur Veröffentlichung bestimmte Romanfassung zu schaffen.

Das Ergebnis war keine Abschrift, sondern eine strenge und selbstkritische Überarbeitung ihrer in Briefform formulierten Beobachtungen und Gedanken als Untergetauchte. Dieses Manuskript bildete zusammen mit den anderen Original-Dokumenten, dem Tagebuch und der Loseblattsammlung, die Grundlage für alle späteren Ausgaben.

Das bewegliche Bücherregal war der Eingang zum Versteck im Hinterhaus

Romanfragment mit Tiefe

Dass es jetzt, kurz vor dem 90. Jahrestag, zum ersten Mal als eigenständiges Romanfragment und in einer neuen Übersetzung herausgegeben wurde, würdigt das vielversprechende literarische Talent Anne Franks. „Ich wusste gar nicht, dass meine kleine Anne so tief war“, sagte Otto Frank Jahre nach ihrem Tod. Ihre Tagebuchaufzeichnungen umfassen 779 Tage Leben, 753 davon im Versteck der Zimmer hinter einem Aktenschrank im Bürogebäude ihres Vaters. „Liebe Kitty“, so der Titel dieser Roman-Edition, umfasst die Zeit vom 12. Juni 1942 bis zum 29. März 1944, weiter kam Anne Frank mit ihrer Neufassung nicht.

Vergleicht man sie mit der ursprünglichen Tagebuch-Fassung, soweit diese erhalten ist, zeigt sich der literarische Sachverstand der gerade 15-Jährigen. „Sie ließ manche Eintragungen ganz weg, überarbeitete andere, fügte neue Beschreibungen, Erkenntnisse und verbindende Gedanken hinzu und schuf so einen interessanten, höchst lesbaren Text“, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Laureen Nussbaum in ihrem Nachwort. Als Freundin der Familie und Anne-Frank-Forscherin in Seattle hat sie, wie sie sagt, 25 Jahre auf eine solche Ausgabe gewartet.

Laureen Nussbaum: Literaturwissenschaftlerin und Anne-Frank-Forscherin

Würdigung als Schriftstellerin

„Das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr!“ Anne Franks Wunsch, den sie ihrem Tagebuch am 5. April 1944 anvertraute, ist mit dieser Neuausgabe, die ihr als junge Schriftstellerin Geltung verschafft, endgültig in Erfüllung gegangen.

Anne Frank: „Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen“, übersetzt von Waltraud Hüsmert, Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019, 208 Seiten

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