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Kultur - 18.01.2019

Wie die Organisation AWARE die Kunstgeschichte weiblicher machen will

Noch immer stehen Künstlerinnen im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Einer der Gründe: Kunsthistoriker haben sie lange vernachlässigt. Die Organisation AWARE aus Frankreich hat das Ziel, den Fehler zu beheben.

Künstlerin Sonia Delaunay (1885-1979) wurde jahrzehntelang nur als „Frau von“ Robert Delaunay wahrgenommen

Es ist das Jahr 2009, als Camille Morineau, damals Kuratorin am Centre Georges Pompidou, ein Schlüsselerlebnis hat: Das Pariser Museum für moderne Kunst, so ihre Idee, soll eine Ausstellung erhalten, in der ausschließlich Kunst von Frauen gezeigt wird – bis dato ein Novum. Aber elles@centrepompidou, wie der Titel der Schau lautet, ist alles andere als leicht auf die Beine zu stellen: Über die Künstlerinnen, die das Museum in seiner Sammlung hat, findet sie kaum Informationen. Weder zur Biografie, noch zur Arbeit noch zur Kunstströmung, der die Frauen überhaupt angehören. 

„Ein Riesenskandal“

Camille Morineau

„Bei der Vorbereitung von ‚elles‘ habe ich gemerkt, wie sehr die Frauen von den Kunsthistorikern bisher unterschätzt wurden“, sagt Camille Morineau im DW-Interview. „Vieles wusste auch ich nicht, und das, obwohl ich Expertin für Kunst des 20. Jahrhunderts bin. Da dachte ich: ‚Das ist doch eigentlich ein riesen Skandal.'“ 

So entsteht die Idee, ein Instrument zu schaffen, das es jedem erlauben würde – egal ob Kuratoren wie Morineau, Kunsthistorikern oder anderen Interessierten – leicht an Information über Künstlerinnen zu gelangen.

„AWARE –  Archives of Women Artitsts, Research & Exhibition“ ist seit 2014 dieses Instrument. Morineau hat die französische Non-Profit-Organisation mit internationaler Ausrichtung gemeinsam mit sechs anderen Frauen gegründet, um die Kunstgeschichte weiblicher zu machen, oder, wie AWARE es ausdrückt, die Kunstgeschichte gar „neu zu schreiben“. 

Die Existenz und Verfügbarkeit von Informationen zu Leben und Werk einzelner Künstlerinnen spielen die zentrale Rolle, um sie aus dem Schatten ihrer männlichen Kollegen herauszuholen, ist Camille Morineau überzeugt. „Historiker arbeiten mit Archiven“, sagt sie, „und wenn sie neue Archive finden, dann verändert sich auch die Geschichte.“

Von Mangel an Künstlerinnen kann keine Rede sein

So macht AWARE nicht nur mit seinem Dokumentationszentrum auf dem Boulevard Saint-Germain Informationen über Künstlerinnen zugänglich – dort gibt es rund 1600 Monografien, Ausstellungskataloge und Essays zu weiblichen Künstlern – sondern auch über ein Online-Archiv.

Übersichtliche Aufbereitung: Das Online-Archiv von AWARE

Bisher umfasst dieses mehr als 400 Einträge zu bildenden Künstlerinnen aus der ganzen Welt und jedes Jahr sollen 150 bis 200 neue hinzukommen. Die Anzahl könne bestimmt um das Hundertfache steigen, glaubt Hanna Alkema, zuständig für wissenschaftliche Programme bei AWARE. Wie viele Künstlerinnen noch unentdeckt sind, sei schwer zu beziffern, man stoße bei der Recherche aber jedes Mal auf neue Namen.  

Voraussetzung für die Aufnahme in den Online-Katalog ist, dass die Frauen zwischen 1860 und 1972 geboren wurden und Zeit ihres Lebens bereits institutionelle Anerkennung erfahren haben. Aber es würden auch Ausnahmen gemacht, so Alkema. Denn natürlich existierten auch Künstlerinnen, die eine Karriere gemacht haben, ohne gewürdigt worden zu sein.

Ziel: mehr Vielfalt

Neben großen Namen wie Cindy Sherman, Agnès Varda oder Sonia Delaunay – letztere musste selbst ein halbes Jahrhundert warten, ehe sie als Künstlerin wahrgenommen wurde und nicht mehr als „Frau von“ – finden sich folglich zahlreiche bislang vernachlässigte oder vergessene Künstlerinnen. Als Beispiele nennt Alkema die georgische Malerin Vera Pagava, die Ägypterin Gazbia Sirry oder die Rumänin Marion Baruch – allesamt Neuzugänge des AWARE-Archivs.  

Aktuell stammen knapp 71 Prozent der verzeichneten Künstlerinnen aus dem okzidentalen Raum, sodass die Organisation intensiv an mehr Diversität im Archiv arbeiten möchte. Doch das ist zeitaufwendig und von Frankreich aus mitunter schwer realisierbar. Die Idee ist daher, ein weltweites Korrespondentennetzwerk aufzubauen, das dabei hilft, vermehrt Künstlerinnen aus Asien, Afrika, dem Nahen Osten sowie Lateinamerika – hierauf liegt 2019 ein besonderer Fokus – aufzuspüren und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, erklärt Alkema. 

Zusätzlich zum Online-Archiv und dem Dokumentationszentrum setzt AWARE außerdem auf Museumsführungen, die den Blick auf Künstlerinnen lenken, Runde Tische und Kolloquien in Zusammenarbeit mit Unis, eigene Publikationen und eine jährliche Auszeichnung an zwei Künstlerinnen. Geldgeber sind unter anderem das französische Kultusministerium und die Fondation Chanel.

„Wie eine mathematische Formel“

„Jahrhunderte lang waren Kunstausstellungen Ausstellungen von Künstlern. Niemandem ist das aufgefallen“, beklagt Camille Morineau gegenüber der DW. Doch in den vergangenen Jahren sei das Bewusstsein für die Benachteiligung von Künstlerinnen gewachsen, die Gesellschaft, der Universitätsbetrieb, der für die Kunstgeschichte schließlich eine zentrale Rolle spielt, verliere an Machotum. 

Für die engagierte Kunsthistorikerin verhält es sich letztlich wie mit einer Formel: „Man wird Künstler aus einem inneren Antrieb heraus. Für mich gibt es keinen Grund, warum Frauen diesen Antrieb weniger gehabt haben sollen, als Männer. Frauen haben das gleiche Gehirn, die gleichen Neuronen und mehr oder weniger die gleiche Biologie. Im Grunde ist es wie eine mathematische Formel. Und die muss nur erneut bewiesen werden.“ Mit AWARE wollen Morineau und ihr Team einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. 

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