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Politik - 08.11.2018

„Jesiden keinen Schutz zu gewähren, würde gegen unser Grundgesetz verstoßen“

Bagdad will nicht, dass sich Angehörige der religiösen Minderheit wieder im Nordirak ansiedeln. Das sagt Irfan Ortac, Chef des Zentralrats der Jesiden in Deutschland. Und er kritisiert, dass deutsche Entwicklungshilfe nicht angekommen ist. 0

Am 3. August 2014 überfiel die Terrororganisation IS den Distrikt Sindschar, das Kerngebiet der religiösen Minderheit der Jesiden im Nordirak. Das anschließende Massaker im Sindschar-Gebirge kostete Tausenden Jesiden das Leben. Frauen wurden vergewaltigt und versklavt. Die UNO sprach von Völkermord. Bis heute können viele der vertriebenen Jesiden nicht in ihre Heimat zurückkehren. Auch der Friedensnobelpreis für die Jesidin Nadia Murad hat keine Probleme gelöst – im Irak werden die jesidischen Gebiete gezielt mit Sunniten besiedelt, die zum Teil an den Verbrechen des IS beteiligt waren. Deutschland muss mehr Angehörigen dieser religiösen Minderheit Asyl geben, sagt der Chef des Zentralrats der Jesiden, Irfan Ortac im Interview mit WELT.

WELT: Herr Ortac, im November jährt sich die Befreiung Sindschars vom IS zum dritten Mal. Weshalb liegt die Region trotz internationaler Hilfen immer noch in Trümmern, und warum sind immer noch mehr als 400.000 Menschen in den Camps?

Irfan Ortac: Ich befinde mich zurzeit im Irak und führe viele Gespräche mit Jesiden. Mein Eindruck ist, dass niemand ernsthaft daran interessiert ist, dass deren Heimat wiederaufgebaut und sicher wird. Solange die Flüchtlinge in den Lagern ausharren, fließt humanitäre Hilfe. Ob diese Hilfe tatsächlich ankommt, ist fraglich. Ich habe mehrmals in öffentlichen und bilateralen Gesprächen mit den Akteuren der deutschen Entwicklungshilfe für nachhaltige Hilfe geworben. Investitionen für Einrichtungen in den Lagern sind aus meiner Sicht nicht nachhaltig. Die Zukunft des jesidischen Volkes können nicht die Flüchtlingscamps im Nordirak sein.

WELT: Welche Bemühungen seitens des Irak existieren, um die jesidische Region wiederaufzubauen?

Ortac: Das ist eine interessante Frage: Sie erweckt zurecht den Eindruck, dass der Irak die Jesiden nicht als ihre Bürger betrachtet. Es ist auch der Eindruck der Jesiden im Irak, dass es keine Zusammenarbeit gibt. Zum Beispiel bekommen alle IS-Opfer Entschädigungen, den Jesiden jedoch werden so viele bürokratische Hindernisse in den Weg gelegt, dass viele von ihnen resigniert aufgeben.

Anstatt in den jesidischen Ortschaften die Verwaltungen dafür einzurichten, müssen die Jesiden nach Tel Afar oder Baaj fahren, um ihre Personaldokumente zu beantragen. Das sind aber ausgerechnet die beiden Städte, in denen die schlimmsten Verbrechen gegen Jesiden begangen wurden.

Auch der Wiederaufbau der Infrastruktur funktioniert nicht. Während beispielsweise Staatsbeamte wie Lehrer im gesamten Irak verpflichtet werden, wieder in ihrer Ursprungsheimat zu arbeiten, gilt diese Verpflichtung nicht für Beamte in der Region Sindschar.

WELT: Wer sind die Rückkehrer in die Region?

Ortac: Es sind überwiegend sunnitische Bewohner der Region. Viele der sunnitischen Rückkehrer haben mit dem IS sympathisiert oder sogar selbst jesidische Mädchen und Frauen missbraucht oder Hab und Gut der Jesiden geplündert.

WELT: Was wurde von der irakischen Zentral- und was von der kurdischen Regionalregierung unternommen, um jene von einer Rückkehr abzuhalten, die zuvor mit dem IS kooperiert haben?

Ortac: Jesiden hier im Irak berichten, dass sowohl Behörden der Zentralregierung in Bagdad als auch der Regionalregierung in Erbil Jesiden daran hindern, in ihre Heimat zurückzukehren. Bis heute haben weder Bagdad noch Erbil der Öffentlichkeit mitgeteilt, welche Personen oder Gruppen aktiv den IS unterstützt haben, obwohl sie Informationen darüber haben müssen. Beispielsweise haben freigekaufte jesidische Frauen den Behörden Informationen dazu gegeben, wer sie misshandelt und missbraucht hat.

WELT: Deutschland hatte großzügige Aufbau- und Entwicklungshilfen für die Jesiden in Sindschar versprochen und diese auch an Bagdad und Erbil übergeben. Haben die Jesiden diese erhalten?

Ortac: Die Jesiden im Irak, aber auch die in der Diaspora, sind Deutschland für seine humanitäre Hilfe in den ersten Monaten nach Beginn des IS-Feldzugs im August 2014 mehr als dankbar. Was die späteren Aufbau- und Entwicklungshilfen angeht, bin ich hingegen skeptisch. Mir wurde vom Bundesbeauftragten für Religionsfreiheit der Bundesregierung mitgeteilt, dass Deutschland bereits über 62 Millionen Euro investiert habe.

Auf meiner Reise nach Sindschar habe ich, mit Verlaub, nur wenig davon gesehen. Ich habe dazu Gespräche mit Jesiden geführt, die in Sindschar leben. Auch sie haben mir bestätigt, dass wenig Projekte zum Wiederaufbau existieren. Und dennoch möchte ich nicht verschweigen, dass einige Projekte, die mit deutschem Geld finanziert wurden, vorhanden sind. Was ich aber gesehen habe, ist, dass die Infrastruktur in sunnitischen Regionen aufgebaut wird.

WELT: Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Ortac: Ich wünsche mir von meiner Bundesregierung, genauer mitzuteilen, wo und wie sie investiert hat. Das Problem der Jesiden ist nicht nur der Wiederaufbau ihrer Häuser. Sie müssen sich in ihrer Heimat sicher fühlen. Sie brauchen nicht nur eine formale Sicherheit, sondern eine real erfahrbare. Wir brauchen für die Jesiden einen Masterplan, der alles beinhaltet. Der Zentralrat der Jesiden hat der Bundesregierung mehrmals Hilfe angeboten. Statt diese Expertise anzunehmen, lässt sie sich aber überwiegend von Einzelpersonen beraten.

WELT: Muss es mehr Möglichkeiten für Jesiden geben, Asyl in Deutschland zu erhalten?

Ortac: Selbstverständlich. Solange die Region so ist, wie sie ist, können die Jesiden nicht im Irak leben. Ihnen keinen Schutz zu gewähren, würde gegen unser Grundgesetz verstoßen.

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