Home Politik „Kastration verursacht einen dumpfen, lang anhaltenden Eingeweideschmerz“
Politik - 07.11.2018

„Kastration verursacht einen dumpfen, lang anhaltenden Eingeweideschmerz“

Im Frühjahr 2019 sollte Schluss sein mit dem Kastrieren männlicher Ferkel ohne Betäubung. Doch wieder zeigt sich die GroKo wenig reformfreudig und entscheidet: zwei Jahre „Weiter so“. Ein Experte sagt im Interview, wie qualvoll das für die Tiere ist. 0

Der Wiener Professor Johannes Baumgartner ist seit mehr als 20 Jahren in den Massenställen Europas unterwegs. Baumgartner ist so etwas wie ein Schweineversteher – er hat die Artikulation, die Sprache der Nutztiere untersucht. Der Tierarzt unterscheidet mittlerweile zwischen 20 Lauten. Mindestens die Hälfte davon drückt Angst, Stress und Klage aus. Seine überraschendste Erkenntnis: In vielem reagieren Schweine sehr ähnlich wie Menschen. Sein Urteil zum jüngsten Beschluss der Bundesregierung, die Ferkelkastration weiter zu erlauben? Schweinerei!

WELT: Herr Baumgartner, nun dürfen kleine Eber weitere zwei Jahre ohne Betäubung kastriert werden. Ist das vertretbar?

Johannes Baumgartner: Deutschland streitet seit fast 20 Jahren über diese Frage. Es muss endlich eine Entscheidung her. Für die Ferkel ist die Kastration eine schmerzhafte Tortur, und sie ist überflüssig. Denn es stehen schonende Alternativen zur Verfügung.

WELT: Das Bundeslandwirtschaftsministerium empfiehlt eine davon. Sie will erlauben, die Ferkel bei der Kastration zu narkotisieren.

Baumgartner: Ich halte das nicht für die optimale Lösung. Ein Narkosemittel gehört in die Hände von Tierärzten. Die Landwirte sind nicht ausreichend qualifiziert, Tiere zu betäuben, das Narkosegas ist unter diesen Umständen ein Risiko für die Menschen und für die Umwelt. Es ist klimaschädlich, kann entweichen und ist dann giftig. Die beste Lösung ist die Immunkastration, bei der die Eber gegen den Geschlechtsgeruch geimpft werden. In mehreren Ländern funktioniert die Methode sehr gut, etwa in Australien, Brasilien, Russland, Belgien.

WELT: In Deutschland ist das Verfahren brutal. Die Ferkel gehen ohne jede Vorbereitung ihrer Hoden verlustig. Man schneidet oder reißt sie ihnen vom Leib.

Baumgartner: Trotzdem gibt es Fachmänner, die das Brutale daran bestreiten. Sie behaupten, dass die Ferkel keine typische Schmerzreaktion zeigen. Schließlich würden die Tiere rasch wieder bei der Mutter saugen. Was beweise, dass sie nicht litten. Das ist eine Fehlinterpretation. Die Kastration verursacht einen dumpfen, lang anhaltenden Eingeweideschmerz. Bis zu 48 Stunden lang lassen sich erhöhte Cortisolwerte im Blut nachweisen, ein Zeichen für Stress und starke Schmerzen. Bis zu einer Woche lang verhalten sich die Ferkel gedämpft, vermeiden starke Bewegungen und krümmen ihren Rücken.

Die Tiere sind im Übrigen so jung, dass sie den Schmerz nur schwer ausdrücken und noch viel schwerer verarbeiten können. Es ist wie beim Menschen. Wenn Kinder sehr früh mit starken Schmerzen konfrontiert sind, verändert sich ihr Schmerzempfinden. Es führt dazu, dass sie sämtlichen Schmerz in ihrem Leben eher überbewerten und stärker empfinden. Das Leid der kleinen Eber geht also weiter. Wenn ihr Schwanz gekürzt wird, ihre Zähne geschliffen oder sie gebissen werden, tut ihnen das stärker weh als Artgenossen, die keinen Kastrationsschmerz spüren mussten.

WELT: Andere Länder haben die martialische Praxis abgeschafft, warum gelingt das in Deutschland nicht?

Baumgartner: Schweine werden in Deutschland nicht als Individuen wahrgenommen. Mit 60 Millionen Tieren jährlich unterhält Deutschland die drittgrößte Schweinefleischproduktion weltweit, nach China und den USA. Kühe müssen täglich gemolken werden und bringen gelegentlich ein Kalb zur Welt. Ein Bauer kümmert sich um sie. Die meisten kennt er persönlich und nennt sie auch beim Namen. Rindern kommt die Vorzugsbehandlung zu, als Individuen wahrgenommen zu werden. Beim Schwein zählt das einzelne Tier nichts. Man misst es in Hunderter- und Tausendereinheiten.

WELT: Essen Sie Schweinefleisch?

Baumgartner: Ja. Aber die Sache hat einen Preis. Wir sind es als Menschen diesem Tier schuldig, ihm ein angemessenes Dasein zu verschaffen. Was wir heute an Schweinehaltung sehen, sind die Auswüchse aus den 50er-, 60er-, 70er-Jahren. Das ging schon damals zu weit, und danach ist es noch heftiger gekommen. Ich schöpfe aber inzwischen die Hoffnung, dass ein typisches Schweineleben in Deutschland irgendwann erträglicher verlaufen kann.

WELT: Wie viel Natur ist im Schwein nach Jahrhunderten Produktzucht übrig?

Baumgartner: In jedem Industrieschwein steckt noch die Wildsau. Lässt man Mastschweine frei, die nie das Tageslicht gesehen haben, preschen die nach einiger Zeit durchs Unterholz, als hätten sie nie was anderes getan. Die sind wie Wildschweine, sie finden sich bestens zurecht. Im Stall kommt von Amts wegen jedem Mastschwein ein Quadratmeter Lebensraum zu. Dort steht es auf Beton, und alles, was das Leben zu bieten hat, ist Staub und der Gestank des eigenen Kots. Kinder, die in einer reizarmen Umgebung aufwachsen, werden nie zu kognitiven Höchstleistungen fähig sein. So konnten wir kaum glauben, was wir bei Mastschweinen entdeckten. Wir wollten herausfinden, ob sie strategisch denken.

WELT: Und?

Baumgartner: Die waren ziemlich clever. Zuerst sollten sie in einem Labyrinth den besten Futterplatz finden. Die meisten hatten das schnell begriffen. Dann ließen wir ein zweites Schwein hinein und staunten über eine echte Sauerei: Das erste Schwein führte die Fresskonkurrenz scheinheilig zur mageren Futterstelle – um sich dann selber über den üppig gehäuften Trog ein paar Gänge weiter herzumachen. Schweine können nicht nur andere bewusst in die Irre führen. Sie haben ein mathematisches Verständnis, können einschätzen, was viel und wenig ist. Das ist im Tierreich selten.

WELT: Wer im Schwein den Speck oder den Braten sieht, wird sich kaum um seinen Verstand kümmern wollen.

Baumgartner: Schweine sind neugierig, sie haben ein Gespür für ihre Artgenossen, und sie können sich verständlich machen. Sie leiden unter Eintönigkeit und Enge. Ihnen wäre mit Abwechslung geholfen. Es reicht, wenn es eine gesonderte Stelle für den Futterautomaten ist, der eine Ration ausspuckt. Außerdem sollte es Krankenboxen geben. Meistens bleiben kranke Tiere sich selbst überlassen, bis sie sterben. Einschläfern oder Notschlachtung ist nicht vorgesehen. Sie können mir glauben, ich habe viel gesehen. Bis heute macht mich aber der Zustand der Schweine in der Tierkörperverwertung fassungslos.

WELT: Es ist gelungen, handliche Schweine zu züchten, wachstumsfreudig, mit extra viel Kotelett dran. Warum nicht auch dumme, anspruchslose Tiere, die im Massenstall nicht leiden?

Baumgartner: Dumme Tiere wären wohl überfordert. Sie wären gestresster, würden leichter in Panik geraten. Die Biologie lässt sich so einfach nicht überlisten.

WELT: Spüren Schweine im Schlachthof, dass es gleich zu Ende sein wird?

Baumgartner: Der Wille zum Leben ist groß – und auch ein Tier geht davon aus, dass es im Leben immer weitergeht, auch wenn es aus Gestank und Stress besteht. Ich habe die Tiere im Schlachthof untersucht. Sie sondern Gerüche und Schweiß ab, die widerspiegeln, dass diese Belastung an die Grenze des Möglichen geht.

WELT: Ist der Tod eine Erlösung?

Baumgartner: Nein. Es ist eher eine weitere Steigerung der Belastung. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer führerlosen U-Bahn, die immer schneller fährt. Und zum Schluss wird Ihnen klar, dass auch noch die Bremse ausfällt.

Eingeengt Tausende Kilometer unterwegs, um als Billigfleisch zu enden Das Video konnte nicht abgespielt werden.
Bitte versuchen Sie es später noch einmal.

3,7 Millionen Tiere sind täglich auf deutschen Autobahnen unterwegs. In engen LKW auf meist drei Stockwerke verteilt. Das Deutsche Tierschutzbüro will mit einer Kampagne auf die teils katastrophalen Tiertransporte aufmerksam machen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

Jens Spahn reist in den Kosovo, um Pflegekräfte anzuwerben

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU): Im Kosovo und in Albanien sei die Pflegeausbildung b…