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Politik - 05.11.2018

„Kinder werden heute viel zu früh in die Kita gegeben“

Familienpolitik richtet sich heute mehr nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes als nach denen der Kinder, rügt CDU-Experte van Lier. Diese würden zum Teil bereits im Babyalter in die Kita gegeben – „mit allen negativen Folgen für die frühkindliche Bindung“. 0

WELT: Herr van Lier, am 3. Dezember gehen Sie nach 25 Jahren an der Spitze der Konrad-Adenauer-Stiftung Rheinland-Pfalz in den Ruhestand. Ihr Schwerpunkt lag dabei vor allem auf der Familienpolitik. Zum Abschied haben Sie Ihr Vermächtnis vorgelegt, den Debattenband „Ohne Familie ist kein Staat zu machen“. Sehen Sie die Familie in Ihrer Funktion als Keimzelle der Gesellschaft bedroht?

Karl-Heinz B. van Lier: Sie steht zumindest in der Gefahr, nicht mehr als der eine große, bedeutende Lebensentwurf zu gelten, der uns die Zukunft garantiert. In der Vielfalt der Lebensentwürfe, die alle ihre Berechtigung haben, haben wir die Familie aus dem Blick verloren.

WELT: Aber die Familienpolitik hat doch in den vergangenen Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren, gewissermaßen vom „Gedöns“ zum wahlentscheidenden Kernthema. Das steht im Widerspruch zu dem, was Sie gerade skizziert haben.

van Lier: Früher bewegte sich Familienpolitik eher im vorpolitischen Raum und bedeutete vor allem Lastenausgleich. Heute ist sie sehr stark ideologisiert. Im Fokus steht die Frau, die nicht mehr nur noch unbezahlte Erziehungsleistung erbringen, sondern beruflich aktiv sein und dabei möglichst ganztätig als Vollzeitkraft zur Verfügung stehen soll – wobei es natürlich zu begrüßen ist, dass Frauen heute ihren beruflichen Wünschen nachgehen.

Aus meiner Sicht gerät die Familie dadurch insgesamt aber unter einen enormen Leistungsdruck, der sich natürlich reduzieren könnte, wenn sich heute vermehrt Väter für die häusliche Erziehungsarbeit entscheiden würden.

WELT: Glauben Sie, dass junge Familien von der Politik wider Willen in die Doppelerwerbstätigkeit gezwungen werden?

van Lier: Ja. Familienpolitik ist heute zu stark arbeitsmarktfixiert. Dabei würde die große Mehrheit der Mütter lieber Teilzeit arbeiten als Vollzeit. Auch aus der Wirtschaft kommt Druck: Die Frauen werden als Fachkräfte gebraucht. Also werden die Kinder immer früher, und zwar schon im Babyalter, in die Kita gegeben. Aus meiner Sicht viel zu früh – mit allen negativen Folgen für die frühkindliche Bindung.

WELT: Aber ist es nicht das, was die meisten jungen Familien heute wollen: Beruf und Elternschaft miteinander zu verbinden, bei geteilter Verantwortung für Haushaltseinkommen und Kindererziehung?

van Lier: Natürlich. Die jungen Väter erbringen ja heute auch Erziehungsleistungen. Das sehe ich auch an meinen Söhnen. Die machen viel mehr mit ihren Kindern, als ich das damals getan habe. Großartig!

Aber leider hat sich auch die ökonomische Situation extrem verändert: Vor 30 Jahren konnte man eine Familie tatsächlich noch mit einem Einkommen ernähren. Man konnte sogar noch ein Einfamilienhaus bauen und ein Auto finanzieren. Das ist heute nicht mehr möglich.

WELT: Der ökonomische Druck auf die Familien ist also so groß geworden, dass Wahlfreiheit im Grunde eine Schimäre ist?

van Lier: Mit der Wahlfreiheit ist das so eine Sache. Was tut der Staat denn? Er versucht, eine kostenlose Kita-Betreuung anzubieten. Und wer bezahlt das? Alle – auch die Eltern, die Betreuung im Sinne einer Wahlfreiheit anders organisieren wollen.

Der ehemalige Sozialrichter Jürgen Borchert hat das mal so formuliert: Der Staat holt den Eltern das größte Schwein vom Hof und gibt ihnen ein Schnitzel zurück. Es wäre viel besser, wenn der Staat den Eltern ihr Geld belassen und damit die Freiheit der Familie stärken würde.

WELT: Und das kann dann bedeuten: Wir sind so frei und erziehen unser Kind bis zum Schuleintritt selbst, oder aber auch: Wir sind so frei und gehen rasch wieder arbeiten?

van Lier: Richtig. Freiheit bedeutet auch Vertrauen. Ein Kita-Platz kostet den Staat 1200 bis 1500 Euro im Monat. Wenn wir Wahlfreiheit wirklich ernst meinen, müssten diesen Betrag im Grunde auch die Eltern bekommen, die ihre Kinderbetreuung privat organisieren.

Warum investiert der Staat in das Objekt, also die Institution Kita, anstatt in das Subjekt, also die Familie? Wir haben inzwischen eine All-inclusive-Mentalität, einen übersorgenden, vorsorgenden Sozialstaat, den wir zunehmend mit unserer Freiheit bezahlen.

Geringverdienern sollen Kita-Gebühren erlassen werden Das Video konnte nicht abgespielt werden.
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Das Gute-Kita-Gesetz wurde jetzt vom Kabinett beschlossen. Dabei sollen unter anderem Geringverdiener die Kita-Gebühren erlassen werden. Weiter gebe es Verbesserungen im Betreuungsschlüssel, durch mehr Personal.

WELT: Stellt der Staat die Familien unter Generalverdacht? Nach dem Motto: Die können es ohnehin nicht?

van Lier: Das ist eine Frage des Menschenbildes. Wir Christdemokraten bauen darauf, dass der Staat dem einzelnen Bürger sein Vertrauen schenkt. Er muss darauf bestehen, dass der Bürger seine Freiheit nutzt, damit das Gemeinwesen funktionieren kann.

Wenn der Staat hingegen sagt: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, misstraut er seinen Bürgern und unterstellt ihnen, mit ihrem Geld nicht vernünftig umgehen zu können.

WELT: Es lässt sich aber auch nicht bestreiten, dass es durchaus Familien gibt, auf die das zutrifft.

Van Lier: Da bin ich vollkommen bei Ihnen. Aber hier möchte ich den ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof zitieren: Es ist ein Fehler, eine Gesellschaft von ihren Rändern her zu definieren. Wir schauen zu viel auf das, was nicht gelingt, als auf das, was gelingt.

Die Mitte muss wieder sichtbarer werden! Wem ist schon heute noch bewusst, dass immer noch drei Viertel aller Kinder unter 18 mit verheirateten Eltern aufwachsen? In der öffentlichen Darstellung sieht es immer so aus, als wäre alles außer Rand und Band. Dem ist aber nicht so.

WELT: Wir müssen also den Familien wieder mehr vertrauen?

van Lier: Ja, denn nur starke Familien können einen starken Staat erhalten. Wir müssen in die Stärke der Familien investieren. Das bedeutet auch, dass die Kinder vor allem in den ersten drei Jahren feste Bezugspersonen haben, damit sie sich gut entwickeln können. Wir verwechseln Betreuung allzu oft mit Erziehung. In der Kita gilt das Prinzip „still, satt und sauber“.

WELT: Wie bitte? Da wird Ihnen aber jede Erzieherin widersprechen.

van Lier: Mag sein, dass das ein bisschen überzogen klingt. Aber die Realität ist, dass wir von einem Betreuungsschlüssel von 1:3, wie er für Kleinstkinder ideal wäre, derzeit noch meilenweit entfernt sind. Es fehlen doch jetzt schon Tausende von Erzieherinnen. Aus meiner Sicht ist eine Betreuung zu Hause für sehr kleine Kinder ohnehin die bessere Option.

WELT: Warum?

van Lier: Ich kann nur über meine eigene Kindheit sprechen. Ich bin sechseinhalb Jahre in einem Kinderheim aufgewachsen. Ich hatte seinerzeit große Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, ich hatte Bindungsschwächen und habe hospitalisiert. Das hat erst aufgehört, als ich in eine liebevolle, starke Pflegefamilie kam, die mich aufgefangen und aufgebaut hat.

WELT: Diese Erfahrungen sind mit einem Kita-Besuch aber nicht vergleichbar. Welche gesellschaftlichen Folgen befürchten Sie denn durch eine frühe Fremdbetreuung?

van Lier: Wenn Kinder ständig im Kollektiv betreut werden, dann werden sie nicht so innovativ und kreativ sein, als wenn sie eine Erziehung genießen, die auf ihre Begabungen und Bedürfnisse abgestimmt ist. Ein Kind muss fühlen, dass es geliebt wird.

Wenn Sie von der Wiege bis zum Abitur ständig im Kollektiv betreut werden, ist das doch eine sehr traurige Biografie. Hier wird die Matrix der Erwerbswelt auf die Kindheit übertragen – eine Fehlentwicklung. Ich frage mich manchmal, warum ich in so herrlich restaurierten ostdeutschen Städten wie Schwerin immer so deprimiert bin.

Inzwischen kenne ich die Antwort: Man sieht dort nur alte Leute auf der Straße. Kinder wie Jugendliche werden ganztagsbetreut. Sie sind im öffentlichen Leben gar nicht mehr sichtbar.

WELT: Wie muss Angela Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin im Parteivorsitz die CDU positionieren? Braucht die Union wieder ein konservativeres Profil?

van Lier: In jedem Fall müssen wir den Prinzipien der Subsidiarität und der Freiheit wieder mehr Raum geben, statt den bevormundenden Sozialstaat weiter auszuweiten. Wir müssen weg von dem Auf-Sicht-Fahren und wieder mehr grundsätzliche Debatten führen. Wir brauchen mutige Reformen.

Und wir müssen wieder stärker in den Blick nehmen, was in der Mehrheit der Bevölkerung gedacht, gelebt und gestaltet wird. Die christdemokratisch-bürgerliche Gesellschaft muss wieder aufgerüttelt werden. Wenn wir nicht mehr streiten, dann gestalten wir auch nicht mehr.

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