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Sport - 20.06.2019

Opa, Papa und die Wunderbeine

Unser Kolumnist glaubt immer an den Sieg – auch wenn er keine Chance hat. Vielleicht liegt das an einer Anekdote aus der Familiengeschichte.

Topfit bis in die späten Jahre: Der Opa unseres Kolumnisten.

Es ist der 29. September, noch wenige Minuten bis zum Startschuss. Läufer aus über 100 Nationen warten gespannt auf der Straße des 17. Juni, gleich geht es los beim Berlin-Marathon 2019. Die schnellsten 42,125 Kilometer der Welt und ich werde den selben Gedankenblitz wie vor jedem Lauf haben. Was, wenn ich gewinne?

Gut, nicht vor den Kenianern, aber vielleicht schnellster Deutscher? Oder ein Sieg in meiner Altersklasse? Zumindest aber eine Zeit unter drei Stunden. Alles total irre, aber vielleicht kann ich heute ja doch die Gesetze der Physik außer Kraft setzen. Es ist immer die gleiche Illusion. Bei kleinen Volksläufen träume ich vom Überraschungssieg, bei großen Laufevents von den Wunderbeinen. Wahnwitz im Adrenalin.

Meine Hoffnung liegt am Sieger-Gen, das ich von meinem Vater geerbt habe. Nur einen Wettkampf hat er in seinem Leben bestritten. Die Geschichte davon habe ich inzwischen so häufig in verschiedensten Versionen gehört, dass nicht mehr klar ist, was Legende und was gesichert ist. Doch im Kern muss sich die Geschichte so abgespielt haben: Es war im September 1980, Papa frische 17 Jahre jung und mehr am Nachtleben als an seinen Turnschuhen interessiert. An einem Sonntagmorgen weckte ihn mein Großvater, um sich zum Bodenseemarathon zu verabschieden. Mein Vater antwortete unvermittelt – unklar, ob in einem Anflug von Wahnsinn oder beseelt vom Restalkohol – er komme mit. Dazu muss man wissen, dass Opa einer dieser Laufpioniere der 70er Jahre war. Kreismeisterschaften, Schwarzwaldmarathon, Dreiländermarathon – Opa lief überall. Seinem Sohn hatte er diese Leidenschaft allerdings nicht vererbt. Vielleicht wollte sich Papa aber auch meinem Opa beweisen. Der alte Vater-Sohn-Konflikt.

Opa zu Papa: „Du versaust mir meine Zeit“

Nun starteten sie also gemeinsam, doch Opa ließ ihn nach 20 Kilometer mit einem Blick auf seine Uhr und dem Kommentar „Du versaust mir meine Zeit“ zurück. Was dann geschah, erzählt Papa stets mit heroischem Unterton. Erst überholte ihn der Rest des Feldes, dann kamen die Krämpfe. Die Kilometer wurden immer länger. Bei Kilometer 35 blieb Papa stehen, bereit für die Aufgabe. Doch dann kam seine Rettung. Ein runzeliger, alter Teilnehmer. Er baute Papa auf, motivierte ihn und zog ihn Meter für Meter weiter. Auf der Zielgerade fand mein Vater seine Kräfte wieder und übersprintete seinen Retter noch nonchalant.

Über fünfeinhalb Stunden, doch Laufen war zu dieser Zeit noch eine Randsportart. Marathon etwas für vollkommen Verrückte. Die Teilnehmerzahlen bei Läufen überschaubar. Und so kam es, dass nur Papa in seiner Altersklasse das Ziel erreichte und im Schlusssprint ausgerechnet den ältesten Teilnehmer bezwang. Einen Pokal bekamen sie beide. Seitdem ist Papa der einzige Marathonsieger der Familie. Ein Umstand, über den mein Opa wohl nie so richtig hinweg gekommen ist.

Und so stehe ich, fast 40 Jahre später, jedes Mal wieder an der Startlinie und denke an Opa, Papa und die alte Heldengeschichte. Mein Großvater-Vater-Sohn- Konflikt. Doch er treibt mich an. Insgeheim hoffe ich auf die schnellen Beine, die Fabelzeit, das große Wunder. Wie im Herbst 1980. Die Hoffnung bleibt. Noch 115 Tage bis zum Berlin Marathon.

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