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Sport - 20.11.2018

Thomas Müller fällt jetzt auch das Leichte schwer

Thomas Müller könnte am Montag gegen Holland sein 100. Länderspiel bestreiten. Unantastbar aber ist der Münchner in der Nationalmannschaft längst nicht mehr.

Neue Rolle. Thomas Müller (rechts) kommt jetzt häufiger von der Bank – so wie vorige Woche im Testspiel gegen Russland.

Die zweite Halbzeit des Länderspiels zwischen Deutschland und Russland am vergangenen Donnerstag war eine ziemlich dröge Veranstaltung. Abgesehen von jener einen Szene kurz vor Schluss, als der Fußball-Nationalmannschaft ein Spielzug von ungeahnter Stringenz gelang. Julian Brandt spielte den Ball flach und scharf in den Fünfmeterraum, Thomas Müller löste sich perfekt von seinem Gegenspieler, sprintete Richtung ersten Pfosten und lenkte den Ball unhaltbar für den russischen Torwart zum 4:0-Endstand ins kurze Eck.

Okay, ganz so war es dann leider doch nicht. Besagter Spielzug sah zwar in der Tat sehr ordentlich aus, Brandt hatte auf der linken Seite viel Platz, er hob den Kopf, schaute, passte – aber Müller bewegte sich nicht aus dem Deckungsschatten des Verteidigers, der schließlich relativ ungerührt zur Ecke klären konnte. Wer Tore von Thomas Müller sehen will, der muss schon über eine ausgeprägte Fähigkeit zur Fantasie verfügen.

Auf 19 Einsätze kommt der 29-Jährige in dieser Saison für den FC Bayern München und die deutsche Nationalmannschaft; drei Tore sind ihm dabei gelungen, das letzte im DFB-Pokal gegen den Regionalligisten SV Rödinghausen. In der Bundesliga hat er nur an den ersten beiden Spieltagen getroffen und für die Nationalmannschaft noch gar nicht. Sein letztes Länderspieltor gelang Müller im März gegen Spanien, im ersten Länderspiel des vermaledeiten Jahres 2018.

Thomas Müller hat seine Effizienz verloren

Diese Bilanz kratzt gehörig an Müllers Markenkern. Er war nie ein Spieler für spektakuläre Dribblings, für Übersteiger mit dem Schwierigkeitsfaktor 3,5. Müller hat vor allem die einfachen Dinge gemacht, und die überragend gut. „Ich definiere mich über die Effizienz und Gradlinigkeit“, hat er mal gesagt. Aber Effizienz und Geradlinigkeit sind ihm auf der langen Strecke seiner beeindruckenden Karriere irgendwann verloren gegangen. Ob er sie noch einmal wiederfindet – daran bestehen zunehmend größere Zweifel.

Am Ende eines Jahres, das Bundestrainer Joachim Löw als „eine richtige Ohrfeige“ empfunden hat, dürfte zumindest Thomas Müller noch einmal ein bisschen gefeiert werden. Als 14. Spieler überhaupt könnte er an diesem Montag (20.45 Uhr), im Nations-League-Duell gegen Holland, sein 100. Länderspiel bestreiten. „Das ist eine sensationelle Leistung“, sagt Löw. „Er verdient den allergrößten Respekt.“

Angefangen hat Müllers bemerkenswerte Karriere im März 2010 mit einem Testspiel gegen Argentinien in München. Nach dem Schlusspfiff saß er bei der Pressekonferenz, Diego Maradona, der argentinische Nationaltrainer, erschien und ließ ihn von seinem Platz verscheuchen, weil er den Jung-Nationalspieler für einen Volunteer hielt. Vier Monate später wurde der Münchner in Südafrika WM- Torschützenkönig, unter anderem dank eines Treffers beim 4:0 im Viertelfinale gegen Argentinien. „Natürlich ist das eine Zahl, auf die viel geschaut wird“, sagt Müller über sein anstehendes Jubiläum. „Und im Rückblick wird das vielleicht was Besonderes sein, aber ich konzentrier’ mich mehr auf den Fußball als auf die Statistiken nebendran.“ Damit hat er im Moment schon genug zu tun.

Nach 2010 war er das Gesicht des Aufbruchs

So wie Müller in den Jahren nach 2010 das Gesicht zum Aufbruch der Nationalmannschaft war – frech, freundlich, unbekümmert und erfolgreich –, so steht er jetzt für die bleierne Schwere, von der das Team in diesem Jahr in die Tiefe gerissen wurde. Müller zählt zur Weltmeistergeneration, an der sich das Publikum inzwischen weitgehend satt gesehen hat und der nun auch Bundestrainer Löw mehr und mehr das Vertrauen entzieht. Sami Khedira ist schon weg, Jerome Boateng steht auf der Kippe, Mats Hummels ebenfalls – und auch der immerspielende Thomas Müller genießt nicht mehr die uneingeschränkte Wertschätzung vergangener Jahre, weder in der Nationalmannschaft noch im Verein. Joachim Löw setzte ihn zuletzt zweimal hintereinander auf die Bank. Bei seinen zehn Länderspieleinsätzen in diesem Jahr wurde Müller vier Mal nur eingewechselt – nachdem es in den 89 Begegnungen zuvor lediglich neun Einwechslungen gewesen waren.

„Thomas Müller ist für uns wertvoll, auch wenn er sich zuletzt nicht so in Szene setzen konnte“, sagt Löw. „Er geht die Wege und hat nach wie vor Qualitäten im Abschluss.“ Aber in den vergangenen 15 Länderspielen hat Müller eben nur einmal für getroffen. Die WM im Sommer war die zweite Endrunde nach der Europameisterschaft 2016, in der er ohne Torerfolg blieb.

„Thomas ist ein absolut besonderer Mensch und Fußballer“, sagt Leon Goretzka, der mit ihm sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalmannschaft zusammenspielt. „Ich finde es noch immer beeindruckend, wie positiv er jeden Tag angeht.“ Auch nach den beiden jüngsten Länderspielen, in denen er zunächst nur Ersatz war, stellte er sich den Medien – ohne Groll, wie es andere vielleicht getan hätten. Bundestrainer Löw hält Müller weiterhin für einen „Energiegeber“. In der Mannschaft, die sich im Umbruch befindet, ist er ein wichtiges integratives Element. Ähnlich vielleicht wie Lukas Podolski in den letzten Jahren seiner Nationalmannschaftskarriere.

Löw hat am Sonntag angekündigt, er werde Thomas Müller nach seinem 100. Länderspiel ein Weizenbier ausgeben. Ob Müller gegen die Holländer zur Feier des Tages mal wieder von Anfang an auflaufen darf, dazu sagte der Bundestrainer nichts. Im Grunde spricht nichts dagegen. Für die Nationalmannschaft geht es ja um nichts mehr.

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