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Wirtschaft - 22.01.2019

Am Nachmittag gehört Vati mir

Wie viel Flexibilität vertragen Arbeitgeber und Arbeitnehmer? Die IG Metall und andere Gewerkschaften bemühen sich um moderne Arbeitszeiten.

Wann ist Feierabend? Die Frage ist immer schwieriger zu beantworten, die Arbeitszeiten driften auseinander, manche sehen sich im…

Patric Succo hat 2006 im Mercedes-Benz-Werk in Marienfelde seine Ausbildung zum Industriemechaniker begonnen. Heute ist er 27 Jahre alt und arbeitet dort als Maschinenbediener. 35 Stunden die Woche, im Schichtsystem, abwechselnd früh, nachts, spät. „Mit Kindern ist das super anstrengend“, sagt Succo. Deswegen hofft er, dass die IG Metall auch über die jüngste Tarifrunde hinaus Schichtarbeiter besonders im Fokus hat. Der Vater einer zweijährigen Tochter und eines einjährigen Sohnes kann sich auch gut vorstellen, seine Arbeitszeit für mindestens ein Jahr auf 28 Stunden zu reduzieren. „Die ersten Lebensjahre sind so prägend“, sagt Succo. „Damit ich eine gute Beziehung zu den Kindern habe, möchte ich viel Zeit mit ihnen verbringen.“

Mehr Zeit für die Kinder

Momentan bringt meist seine Partnerin, die auch bei Mercedes arbeitet, die Kinder morgens zur Kita in unmittelbarer Nähe des Werkes und arbeitet dann sechs Stunden. Hat Succo Früh- oder Nachtdienst, kann er sie abholen. Arbeitet er jedoch von 13.30 Uhr bis 21 Uhr, sieht er seine Freundin und seine Kinder fast gar nicht. „Das merke ich ihnen auch an. Am Wochenende möchte meine Ältere dann ganz viel mit mir machen“, sagt der Metaller. Für ihn steht die Familie an erster Stelle. Arbeit dient Succo nicht zur Selbstverwirklichung, sondern ist Mittel zum Zweck. Um sein Leben finanzieren und genießen zu können, um seiner Familie etwas zu bieten. „Ich möchte später auf gar keinen Fall bereuen, wegen meines Jobs zu wenig zu Hause gewesen zu sein.“ So wie es die Jüngeren oft mit ihren Vätern erlebt haben.

Arbeitgeber: Wir sind schon flexibel

„Die Betriebe sind bereits heute flexibel, wenn es um die Wünsche der Mitarbeiter zur Gestaltung der Arbeitszeit geht“, behauptet der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und führt als Beleg eine eigene Umfrage unter Beschäftigten an, wonach die meisten Arbeitnehmer nicht nur zufrieden sind mit der Arbeitszeit, sondern sogar gerne noch eine Schippe drauflegen würden. „62 Prozent der befragten Mitarbeiter können sich vorstellen, länger als zehn Stunden zu arbeiten, wenn es ihre eigene Entscheidung ist.“

Patric Succo arbeitet bei Mercedes in Marienfelde.

Die zehn Stunden führt Gesamtmetall nicht ohne Grund an, denn genau hier liegt nach dem Arbeitszeitgesetz die Höchstgrenze der täglichen Arbeitszeit. Wenn selbst die Arbeitnehmer diese Hürde zu überspringen bereit sind, so suggeriert der Arbeitgeberverband, dann müssten doch auch Gewerkschaften und Gesetzgeber ihren Widerstand gegen ein neues Arbeitszeitgesetz aufgeben, das den Ansprüchen der Arbeitswelt 4.0 gerecht werde: Die digitale Transformation funktioniere nur mit weniger Regulierung und mehr Flexibilität. „Dafür müssen unter anderem individuelle betriebliche Regelungen zur Arbeitszeit gefunden werden“, meint das Düsseldorfer Institut für angewandte Arbeitswissenschaften. „Starre einheitliche Modelle behindern die Zukunft.“ Das würden Beschäftigte und Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie auch so sehen, nicht jedoch die IG Metall, meint das Institut, das mit den Metallarbeitgebern verbandelt ist.


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Kollektive Regeln für Individualisten

Tatsächlich tun sich die Gewerkschaften schwer, mit dem Kollektivrecht der Tarifverträge auch die individuellen Präferenzen ihrer Mitglieder einzufangen. Für betriebliche Belange wurde der Flächentarif schon vor mehr als zehn Jahren geöffnet, und so langsam gibt es auch Wahlmöglichkeiten für den einzelnen Arbeitnehmer: Die Tarifparteien verständigen sich auf einen Rahmen, der dann in den Betrieben gefüllt wird.

Verdi, nach der IG Metall die größte Gewerkschaft hierzulande, versucht „vor dem Hintergrund der Digitalisierung sowie der stark zunehmenden psychischen Belastungen“ das Thema Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitgestaltung zunehmend in Tarifverträgen aufzugreifen. Behauptet die Gewerkschaft jedenfalls. In Wirklichkeit passiert nicht viel. In zwei Wochen legt Verdi die Tarifforderung für den öffentlichen Dienst in den Kommunen und beim Bund vor, das betrifft mehr als anderthalb Millionen Beschäftigte und ist damit nach dem Metallkonflikt die größte Tarifbaustelle in diesem Jahr. Aber eine relativ einfache, es geht nur um Geld, Arbeitszeit spielt keine Rolle.

Frauen in der Teilzeitfalle

Das ist überraschend. Der Großteil der Mitglieder der Dienstleistungsgewerkschaft ist weiblich und hängt oft in der Teilzeitfalle fest oder hat Probleme, Beruf und Familie einigermaßen in Deckung zu bringen. Auch deshalb, weil die Arbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten seit 15 Jahren ständig gestiegen sind und heute im Schnitt bei rund 41,5 Wochenstunden liegen; dazu werden jedes Jahr rund 1,5 Millionen Überstunden geleistet. „Wir brauchen nicht noch mehr Entgrenzung von Arbeitszeiten, sondern Reformen, die auch den Beschäftigten einen größeren Anteil an der ,Flexibilitätsrendite’ bringen“, sagt Yvonne Lott, Arbeitszeitexpertin der Hans-Böckler-Stiftung des DGB. Berufliche Anforderungen und private Verpflichtungen und Bedürfnisse unter einen Hut bringen zu können, sei unerlässlich für Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Das würden die meisten Arbeitgeber wohl auch so unterschreiben. Sie betonen auch die Bereitschaft, den Arbeitnehmern Flexibilität einzuräumen. Andernfalls wird das auch nichts mit dem Recruiting von jungen Talenten der Generation Why, für die Arbeit nicht alles ist.

Solidarität stößt an Grenzen

Welche Rolle dabei die Gewerkschaften spielen können, ist indes noch nicht ausgemacht. Wenn sich die gut ausgebildeten jungen Leute die Arbeitsbedingungen selbst aussuchen können, wozu braucht es dann noch kollektive Interessenvertretung? Und welchen Raum gibt es überhaupt noch für das gewerkschaftliche Mantra der Solidarität?

Der Marienfelder Metaller Succo kann seine Arbeitszeit nur dann erheblich kürzen, wenn er einen Teillohnausgleich bekommt. Sonst sei es äußerst fraglich, ob er sich die zusätzliche Zeit mit seinen Kindern leisten kann. Ein Zoobesuch, ein Urlaub wären überhaupt nicht mehr möglich, sagt er. Die Kritik der Arbeitgeber, das gefährde den Betriebsfrieden, wenn manche der Beschäftigten einen Lohnausgleich bekämen und andere nicht, weist Succo zurück. „Ich habe bislang von keinem einzigen Kollegen gehört, das sei unfair. Schließlich wissen sie, dass sie sehr wahrscheinlich selbst einmal betroffen sein werden.“ Entweder würden sie auch eine Familie gründen wollen oder müssten irgendwann ihre Eltern pflegen.

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