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Wirtschaft - 08.01.2019

Arbeit von egal wo wird zum Alltag

Immer mehr Menschen arbeiten mobil. Egal ob sie in einem Industriekonzern angestellt sind oder in einem Start-up. Unumstritten ist das nicht.

Wer will, kann vom Ferienhaus arbeiten. Oder am Strand.

Wer bei dem Softwarehersteller SAP arbeitet, kann morgens weiterhin ins Büro kommen. Er kann aber auch zu Hause arbeiten, im Café oder im Ferienhaus. Ganz wie er möchte. Unternehmen und Betriebsrat haben dazu jetzt eine entsprechende Vereinbarung ausgehandelt. Die Wünsche der 22 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten mit den Vorgesetzten abgestimmt werden – per Mail, SMS oder per Kalendereintrag, teilte der Personalchef mit. Sonst spricht nichts dagegen. Außer: Gezwungen werden dürfe niemand. Jeder Angestellte müsse seinen festen Büro-Arbeitsplatz behalten. Eine „100 Prozent Mobilarbeit“ sei nicht gewollt.

Die Arbeit von egal wo wird in immer mehr Unternehmen in Deutschland zum Alltag. Vier von zehn Arbeitgebern lassen ihre Mitarbeiter inzwischen ganz oder teilweise von zu Hause aus arbeiten. Innerhalb eines Jahres stieg dieser Anteil laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom um neun Prozentpunkte. Der Grund: Digitale Technologien erlauben es, viele Arbeitnehmer wollen es.

Seit den 90er Jahren gibt es Regelungen zum Homeoffice. Damals wurde es aber noch „Telearbeit“ genannt. Unumstritten ist diese Form des Arbeitens nicht. Von den Unternehmen ist Vertrauen gefordert, von den Mitarbeitern Selbstdisziplin. Führungskräfte müssen aus der Ferne kommunizieren und den Überblick behalten. Anders als Kritiker meinen, arbeiten viele so eher mehr als weniger, um zu beweisen, dass sie wirklich etwas geleistet haben. Um sich deswegen nicht unter einen zu hohen Druck zu setzen, empfiehlt die Psychologin Julia Scharnhorst ganz „klare Regeln“ – mit den Kollegen, den Vorgesetzten und der Familie. Sonst müsste derjenige abends auch noch erklären, warum er nicht aufgeräumt hat. Er war doch zu Hause.

Eine Studie der International Labour Organization (ILO) zeigt: Mobile Arbeiter sind gestresster und schlafen schlechter. Trotzdem sind sie zufrieden. Die Relevanz dieser zunehmenden Tätigkeitsform zeigt sich auch darin, dass die „Arbeitswelten der Zukunft“ das Thema des diesjährigen Wissenschaftsjahres sind.

Was in der „Old Economy“ passiert:

Pflege ist ein großes Thema im Berliner Mercedes-Werk in Marienfelde. Aber nicht nur die Pflege, auch mehr Zeit für die Kinder steht auf der Prioritätenliste oben, wenn es um die Arbeitszeit geht. Der jüngste Tarifabschluss, der den Beschäftigten in der Metallindustrie die Möglichkeit gibt, für zwei Jahre auf eine 28-Stunden-Woche zu gehen, sei „sehr positiv“ aufgenommen worden, erzählt Beate Rudolph, Betriebsrätin in dem Werk an der Daimlerstraße. Rund 2600 Beschäftigte bauen hier Motoren für Mercedes und Smart, mehr als die Hälfte sind Dieselmotoren. Etwa 600 der Beschäftigten fallen unter die Rubrik Angestellte – und die stehen in der Regel nicht am Band und arbeiten auch nicht in Wechselschicht. Vor allem für diese Personen gibt es seit 2016 in allen deutschen Mercedes-Werken die Möglichkeit der mobilen Arbeit: Wenn Arbeitnehmer und Vorgesetzter sich einig sind, dann darf zu Hause gearbeitet werden oder im Park mit dem Laptop auf den Knien.

Das Prinzip der „doppelten Freiwilligkeit“ gilt fast überall in der Großindustrie und den ersten Versuchen mit Arbeit außerhalb des Unternehmens. Mobile Arbeit kann dazu beitragen, „eine flexible Gestaltung von Arbeitszeit und -ort im privaten sowie betrieblichen Interesse zu ermöglichen“, heißt es in einer Vereinbarung der Betriebsparteien bei Bosch. „Wir fördern Arbeitszufriedenheit und Selbstverantwortung, zugleich verbessern wir Arbeitsqualität und Arbeitsproduktivität“, beschreibt Karlheinz Blessing, Personalchef von VW, das Ziel mobiler Arbeit. Nach Angaben des Betriebsrats arbeiten rund 13 000 VW-Kollegen stunden- oder tageweise nicht im Büro. Bei VW gilt wie bei Bosch und anderen Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes: In Frage kommen für mobiles Arbeiten nur Tätigkeiten, die dafür auch geeignet sind. Die Leute am Band, die physisch Produktionsmittel verarbeiten, können eine Karosse nicht mit nach Hause nehmen.

Doch diese Handarbeit wird seltener. In Wolfsburg, mit gut 50 000 Beschäftigten die größte Autofabrik Europas, sitzt inzwischen mehr als die Hälfte der Belegschaft im Büro. Laptop und Handy sind die wichtigsten Arbeitsmittel. „Die Digitalisierung der Fabriken und Büros ermöglicht es uns, Arbeit und Arbeitsbedingungen neu und anders zu gestalten“, sagt Jörg Hofmann, Chef der IG Metall. Smartphones und Notebooks sowie die Möglichkeit, sich von überall einwählen zu können, „machen orts- und zeitflexibles Arbeiten möglich“, sagt der Gewerkschafter und sieht darin vor allem neue Freiheitsgrade für seine Klientel. Hohe Verantwortlichkeit im Beruf ginge oft damit einher, dass Beschäftigte selbstbewusst die „Entscheidungshoheit über ihre Arbeits- und Lebenszeit zurückgewinnen“ wollen.

Aus Mitläufern werden Mitdenker und Mitverantwortliche, die im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit ihre Aufgaben dann erledigen, wenn es passt. Die Beschäftigten bekommen größere Gestaltungsspielräume. Und neben der Zeitsouveränität und besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privat spart man sich Fahrtzeiten und ist womöglich an einem selbst gewählten Ort produktiver, weil die Arbeitskollegen nicht stören. Auf der anderen Seite kann mobiles Arbeiten ein weiterer Schritt sein in Richtung permanenter Verfügbarkeit und Erreichbarkeit. Durch den Stand- by-Modus könnte der Stress sogar größer werden, und der Verlust kollegialer Kontakte und Abstimmungen an einem Tisch mit den Kollegen ist auch nachteilig. Schließlich gibt es die Gefahr für die Beschäftigten im Homeoffice, dass sie „etwas verpassen oder bei der Auswahl zu Weiterbildung, spannenden Projektaufgaben oder Aufstiegsmöglichkeiten übersehen werden“, heißt es bei der IG Metall.

Was in der „New Economy“ passiert:

Florian Plenge arbeitet gerade mal wieder aus der Ferne – allerdings unfreiwillig. Der Chef und Gründer des Berliner Start-ups Skoove hatte einen Skiunfall und liegt nun mit einem gebrochenen Fuß in einem Krankenhaus in Garmisch-Partenkirchen. Doch wenigstens ist er es gewohnt, seine Firma zu führen, ohne dabei unbedingt im Büro zu sitzen. Auch seinen 20 Mitarbeitern gewährt er viele Freiheiten. Skoove bietet Klavierkurse im Internet und per App. Vorher hatte Plenge bei Native Instruments gearbeitet, einem Berliner Spezialisten für Musiksoftware und DJ-Technik. Doch bei dem Unternehmen mit starken Verbindungen zur Technoszene wurden die Mitarbeiter an einer erstaunlich kurzen Leine gehalten. „Präsenzarbeit wurde da relativ hochgehalten“, erinnert sich Plenge. „Das fand ich nicht mehr zeitgemäß und wollte damit in meiner Firma anders umgehen.“

So arbeitete einer der Entwickler in der Anfangszeit als sogenannter digitaler Nomade. „Er war nur zum Start einmal in Berlin“, sagt Plenge. Danach reiste er von Russland, über die Mongolei und China bis nach Thailand und arbeitete von unterwegs. Die Arbeit erledigte er zuverlässig. Das änderte sich jedoch, als der Programmierer in Costa Rica war. Es lag aber weniger an ihm, sondern an der Zeitverschiebung und vor allem daran, dass die Arbeit kleinteiliger und der Abstimmungsbedarf höher wurde. Allgemeine Regeln für die Heimarbeit gibt es bei Skoove nicht. Einige Mitarbeiter aus dem Kundendienst, die das meiste per Mail und Chat beantworten, sind nie im Büro, andere zur Hälfte und wieder andere meist. „Homeoffice passt nicht zu jedem Job und zu jedem Menschen“, sagt Plenge. Nicht alle seien zu Hause genauso produktiv wie im Büro. Daher vereinbart er individuell, wie frei jeder seinen Arbeitsort wählen darf, und ruft sie auch wieder ins Büro, wenn es nicht klappt.

So wie Skoove halten es viele Start-ups und Unternehmen aus der Digitalwirtschaft. Egal ob Zalando, Delivery Hero, N26 oder Hellofresh. Feste Homeoffice-Regelungen haben die wenigsten. „Als junges Unternehmen sind wir an keine starren und verstaubten Anwesenheitspflichten gebunden“, erklärt Hellofresh. Doch die totale Freiheit gibt es auch bei vielen Jungunternehmen nur selten. Wenn jemand auf den Handwerker warten muss und in anderen Notfällen sind viele flexibel, aber auch bei vielen Digitalfirmen ist der Alltag ähnlich wie beim Spieleentwickler Wooga. „Gerade in unseren Spieleteams findet im Laufe des Arbeitstages ein sehr enger Austausch zwischen den einzelnen Teammitgliedern und Disziplinen statt“, sagt Wooga-Chef Jens Begemann. „Um diesen zu gewährleisten, ist es natürlich besser, wenn sich alle in einem Raum befinden.“

Einige Start-ups haben feste Regeln. Bei der Ferienhaus-Suchmaschine Hometogo gibt es zum Beispiel einen Heimarbeitstag pro Monat. Das Kontingent steigt mit der Betriebszugehörigkeit. Bei Flightright dürfen alle Mitarbeiter sogar einen Tag pro Woche von Zuhause arbeiten. „Die Mehrzahl unserer Beschäftigten nutzt dieses Angebot“, sagt eine Sprecherin. Auch Bookatiger wirbt in Stellenausschreibungen mit einem Tag Homeoffice pro Woche.

Denn im Kampf um Fachkräfte ist das oft ein wichtiges Argument. Das merkte auch Christoph Huebner, Gründer des Unternehmens Tippgeber. Er vermittelt im Internet private Krankenversicherungen für Kinder und suchte zwei Servicemitarbeiter. Als sich niemand fand, schrieb er die Stelle explizit für „Digitalnomaden“ aus. Die sind auf eigenen Webseiten vernetzt, allein beim Portal Nomadlist.com sind mehr als 50 000 reisende Digitalarbeiter angemeldet. Und so fand Hübner schnell gleich zwei neue Mitarbeiter.

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