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Wirtschaft - 19.03.2019

Der Boom jenseits der Oder

Die polnische Wirtschaft ist seit der Wende fast durchgehend gewachsen und zum wichtigen Partner für Deutschland geworden. Doch zuletzt dominierten die Sorgen.

An der Skyline Warschaus ist der wirtschaftliche Aufschwung seit 1990 unübersehbar. Rund um den Kulturpalast im Stil des…

Im Jahr 2012 stand Sebastian Kleinau vor einer schwierigen Frage. Der Gründer und Geschäftsführer des Berliner Startups Talixo suchte einen neuen Standort für seine IT-Abteilung. Er prüfte den Gang nach Indien, nach Afghanistan, nach Pakistan. Letztlich landete er mit seiner Firma, die Taxi- und Limousinen-Services anbietet, in Krakau.

„Viele Gründe sprechen für Polen“, sagt Kleinau. „Es herrscht eine kulturelle Nähe zu Deutschland, die Arbeitskosten sind noch vergleichsweise günstig und die Ausbildung gerade im IT-Bereich ist in Polen sehr gut.“ Seine polnischen Mitarbeiter seien ein großer Wettbewerbsvorteil, sagt Kleinau. Und er ist sich sicher: „Ich würde diese Entscheidung wieder so treffen.“

Damit steht der Gründer nicht allein da. 95 Prozent der deutschen Unternehmen, die in Polen investiert haben, würden das Land erneut als Investitionsstandort wählen. Das geht aus einer Unternehmensumfrage der Außenhandelskammer hervor. Diese Zahl ist ein Beleg dafür, wie intensiv die Wirtschaftsbeziehungen beider Nachbarländer inzwischen sind. Und wie weit sich die Unternehmen östlich der Oder inzwischen von dem chaotischen Zustand entfernt haben, der mit dem despektierlichen Stereotyp der „polnischen Wirtschaft“ sogar Eingang in den deutschen Sprachgebrauch fand.

Selbst in der Finanzkrise wuchs das BIP

Tatsächlich zeigt schon ein Blick auf die Zahlen, dass Polens Wirtschaft seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bis zur Finanzkrise eine mehr als beeindruckende Wachstumsentwicklung vorzuweisen hat: Zwischen 1990 und 2008 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 66 auf 534 Milliarden US-Dollar. Die jährliche Wachstumsrate Polens liegt seit 1992 fast immer über der deutschen. Sogar im Jahr der Finanzkrise, als Deutschlands Wirtschaft um fast sechs Prozent abstürzte, ging es in Polen um 2,8 Prozent bergauf.


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Für das kommende Jahr rechnet man mit einem Plus von 3,8 Prozent; in Deutschland geht das Bundesfinanzministerium inzwischen von einem Plus von weniger als einem Prozent aus. Noch liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf mit gut 13.811 Euro allerdings deutlich niedriger als in Deutschland (knapp 40.000 Euro).

Doch wie sieht die Wirtschaftsstruktur Polens aus? Mit einem jährlichen Umsatz von 50 Milliarden Euro ist die Nahrungsmittelindustrie die stärkste Branche in Polen. Daneben gehört auch die Automobilbranche zu den wichtigen Wirtschaftszweigen des Landes. Überhaupt wird mehr als ein Viertel der Bruttowertschöpfung in Polen durch die Industrie erzielt – im EU-Durchschnitt liegt diese Quote bei 20 Prozent.

Große Konzerne von Weltrang gibt es jedoch kaum. Laut dem Forbes-Ranking der umsatzstärksten Unternehmen der Welt war 2018 der Mineralölkonzern PKN Orlen das größte polnische Unternehmen. Mit rund 25 Milliarden US-Dollar lag Orlen allerdings nur auf Platz 713 dieser Liste. Es folgten die Versicherung Grupa PZU (770) und die Bank Polski (845). An allen drei Unternehmen ist der Staat beteiligt.

Polnische Mittelständler wie Solaris könnten zu Global Playern werden

Das Herz der polnischen Wirtschaft bilden die Kleinunternehmen. Nach der Wende gab es einen Boom von Neugründungen. Von diesem breiten Angebot selbstständiger Unternehmen profitiert die Wirtschaft noch heute. „Polen ist schon lange nicht mehr die Werkbank Europas“, sagt auch Michael Kern, Geschäftsführer der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer. „Es gibt in der polnischen Wirtschaft einige mittelständische Unternehmen, die in den kommenden Jahren zu internationalen Akteuren aufsteigen können.“

Als Beispiele nennt er den Bus-Hersteller Solaris, der führend in der Entwicklung von Elektrobussen ist, die Software-Firma Asseco, „das SAP Polens“, und den Kosmetik-Anbieter Inglot, „den Sie jetzt schon an allen Flughäfen der Welt finden“. „Der Abzug qualifizierter Arbeitskräfte ist fast gestoppt, weil die Gehälter für hochqualifizierte Jobs in Polen nicht mehr so viel niedriger sind, die Lebenshaltungskosten allerdings schon“, sagt Kern. „Doch auch in Polen herrscht großer Fachkräftemangel, vor allem bei Facharbeitern im technischen Bereich.“

Das deutsch-polnische Wirtschaftsverhältnis in Zahlen.

Die PiS-Partei wird zum Standortrisiko

Abgesehen davon wurden Anzeichen einer sich abkühlenden Stimmung zuletzt vor allem durch die Politik der polnischen Regierung provoziert. Seit die rechtskonservative PiS-Partei 2015 an der Macht ist, klagen deutsche Unternehmer über die Unberechenbarkeit der polnischen Politik. Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft „Germany Trade and Invest“ spricht von „wirtschaftlichem Patriotismus“ und stellt fest, dass die Regierung das Angebot an Fördermöglichkeiten in Richtung einer höheren lokalen Wertschöpfung umbaut.

Infolgedessen verlor Polen den Spitzenplatz im Ranking der Standortattraktivität der deutschen Auslandshandelskammern in Mittelosteuropa 2017 an Tschechien. „In der deutschen Wirtschaft gibt es Sorgen über die Vorhersehbarkeit der polnischen Wirtschaftspolitik“, sagt auch Kern. Von Protektionismus will er aber nicht sprechen.

Mercedes investiert in Polen

Für Polen ist Deutschland ein enorm wichtiger Handelspartner. Seit 1990 flossen mehr als 30 Milliarden Euro an Investitionen aus Deutschland nach Polen, aus keinem anderen Land kamen mehr Gelder. Andersherum ist es nur eine Milliarde Euro. Der Handel zwischen den Nachbarstaaten wächst stetig. 2018 lag das Gesamtvolumen bei 118 Milliarden Euro, wobei Deutschland einen kräftigen Überschuss verzeichnet. Dennoch geht ein Viertel der polnischen Ausfuhren nach Deutschland. Größter Exporteur ist Volkswagen. Insgesamt sind mehr als 6500 deutsche Firmen in Polen aktiv.

Diese Zahlen sind natürlich auch der polnischen Regierung bekannt. Und so finden zumindest große deutsche Konzerne kaum kritische Worte für die polnische Politik. Mitte 2019 will etwa Mercedes ein weiteres Werk in Polen eröffnen. Die Fabrik in Jawor soll sowohl Diesel- und Benzin-Motoren als auch Batteriezellen fertigen. Unternehmensvertreter schwärmen, Umwelt- und Baugenehmigungen habe man „rekordverdächtig schnell“ erhalten.

Auch der Ausbau der Infrastruktur werde ganz nach ihren Wünschen vorangetrieben. Tatsächlich schnürt Polen aktuell ein Investitionspaket für den Schienenverkehr, „wie es es seit 80 Jahren nicht gegeben hat und nicht mehr geben wird“, sagt Kern. Dem Vernehmen nach steht der Ausbau der Zugverbindungen nach Deutschland weit oben auf der Prioritätenliste.

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