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Wirtschaft - 30.03.2019

Die Ukraine sucht sich selbst

Die Hoffnungen der Menschen waren riesig, doch heute tritt die Ukraine auf der Stelle. Eindrücke aus einem Land, das die Geduld mit sich selbst verliert.

In Kiew: Zwischen den Kandidaten aus Pappe der bei vielen verhasste Wladimir Putin.

Eine etwa zwei Meter große blaue Hand, zum Stopp-Zeichen geformt, zeigt im Zentrum Kiews an: bis hierhin und nicht weiter. Diese Skulptur steht an einem historisch aufgeladenen Ort, denn hinter ihr ragt jene Säule empor, auf der bis Ende 2013 Lenin seinen Platz hatte.

So weit scheint die Erzählung über die Ukraine klar, von einem Land, das früheren Helden Einhalt gebietet, um nach vorne zu schreiten. Nach dem kahlen Revolutionsführer wehte zunächst eine EU-Flagge von der Säule, später stand auch mal eine Kloschüssel darauf. Kurz vor der Präsidentschaftswahl ist dort ein Dreizack platziert, das ukrainische Staatswappen. Daneben schlägt an diesem windigen Tag eine rot-schwarze Flagge um sich. Sie gehört zum rechtsextremen „Pravy Sektor“.

Am Sonntag wählen die Ukrainer ihren Staatschef. Es ist die zweite Präsidentschaftswahl seit dem Euromaidan, die erste fand wenige Monate nach der Revolution statt und brachte den Oligarchen Petro Poroschenko an die Macht, obwohl die Überwindung der Macht der Oligarchen nach der europäischen Integration das zweite große Ziel der Revolution gewesen war. Tausende kommunistische Statuen sind seither gestürzt worden, doch fast nirgendwo konnten sich Politiker und Bürger darauf einigen, was an ihre Stelle treten soll. Die Ukraine sucht sich selbst.

In Kiew gefällt die Flagge der rechtsextremen Bewegung „Pravy Sektor“ auf der Säule kaum einem Passanten. „Die besetzen den öffentlichen Raum und keiner macht was“, empören sich drei junge Männer, die an einem sonnigen Frühlingstag auf einer Bank hinter der Säule sitzen und rauchen. „Aber wir würden uns auch nicht trauen, die Flagge da runterzuholen. Wir sind nur Studenten.“ Eine ältere Dame, die ihren Schal so oft um sich gewickelt hat, das sie an eine laufende Mumie erinnert, murmelt etwas von „Barbarei“. Viele schauen flüchtig hoch und eilen weiter.

Auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan Nasaleschnosti, stehen gewaltige Aufsteller aus rostigem Metall, die an Berliner Mauersegmente erinnern, tatsächlich aber der „Himmlischen Hundertschaft“ gewidmet sind. Jenen Demonstranten also, die während der Revolution getötet worden sind. Höchstwahrscheinlich waren die Täter Angehörige der Sicherheitskräfte der gestürzten Regierung Janukowitsch, aber die juristische Aufarbeitung steckt fest.

Vor den Aufstellern springen ein Huhn und ein Zebra durch die Gegend, es sind junge Männer in Plüschkostümen. Sie verteilen Flyer für eine neue Spielkonsole. Auch Senioren verteilen Flyer, aus kleinen Büdchen heraus, nur ein paar Meter weiter. Sie werben für die verschiedenen Präsidentschaftskandidaten.

Sowohl bei den Werbeständen als auch auf Plakaten ist Präsident Poroschenko mit seinem Slogan „Armee, Sprache, Glaube“ stark vertreten, gefolgt von Julia Timoschenko, der so oft verurteilten wie wiederauferstandenen Heldin der ersten Maidan-Revolution von 2004. Die beiden liegen in den Umfragen auf den Medaillenrängen. Es führt aber ein Mann, der zumindest hier in Kiew gar keinen Straßenwahlkampf zu betreiben scheint. Wolodymyr Selenskis Bühne ist der Fernsehbildschirm.

„Diener des Volkes“

Bekannt geworden ist Selenski als Held der Fernsehserie „Diener des Volkes“, in der er vom einfachen Lehrer zum Präsidenten der Ukraine aufsteigt. In der Woche vor der Wahl läuft die neue Staffel an, in der auch Poroschenko und Timoschenko karikiert werden. Während sich auf den Straßen und Plätzen der Ukraine die Parteigänger die Mützen tiefer ins Gesicht ziehen, stilisiert sich Selenski als TV-Präsident zum ehrlichen Gegenpol des korrupten Establishments.

Sollte er wirklich die Wahl gewinnen, wäre der Übergang erreicht, von einer Gesellschaft, in der das Fernsehen die Wirklichkeit nachahmt zu einer, in der sich dieses Verhältnis umgekehrt hat. Hinter Selenski steht der milliardenschwere Unternehmer Igor Kolomojski, der als Intimfeind von Präsident Poroschenko gilt.

Sein Fernsehsender bringt am letzten Abend vor der Wahl, in der Wahlwerbung eigentlich verboten ist, eine Dokumentation über Ronald Reagan, den Schauspieler, der US-Präsident wurde. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Synchronstimme Reagans spricht übrigens Wolodymyr Selenski.

Auch wenn die Macht der Oligarchen also erdrückend scheint, hat sich seit dem Maidan eine vielfältige Zivilgesellschaft entwickelt, die ein Gegengewicht bildet. Etwa die  Nichtregierungsorganisation, Jugendbewegung und politische Partei „Respublika“.

Pavlo Viknjanski empfängt in einem grauen Plattenbau unweit des Kiewer Stadtzentrums. Sein Büro ist spartanisch eingerichtet, ein Regenbogenfähnchen steht auf seinem Holztisch Marke „sowjetisches Kinderzimmer“. „Die Politik ist in unserem Land konstant zynisch“, sagt der 39-Jährige. „Wir leben in einer Art Postdemokratie.“

Angesprochen auf sein Büro macht er klar, dass diese Art der Inneneinrichtung volle Absicht sei. „Viele Menschen in der Ukraine denken, dass jemand ja nicht Recht haben kann, wenn er keine Hazienda in Spanien und keine 100 Millionen auf einem Schweizer Konto hat. Wir wollen das Gegenteil beweisen.“

Abrechnung mit den Eliten

Respublika wäre in Deutschland politisch wohl am ehesten mit den Grünen einverstanden. Mit einzelnen Politikern der Partei gebe es auch Kontakte, erklärt Viknjanski, „aber wir müssen uns noch viel besser mit Europa vernetzen“. Als größtes Problem seines Landes sieht er ansonsten den „ungezügelten Raubtierkapitalismus“, in dem die Mächtigen mit den Hoffnungen der Menschen spielen würden, „ganz bald so zu leben wie Westeuropäer“.

Um aufzuzeigen, wie die Eliten ihr Land ausnehmen, fertigt Respublika Studien mit internationalen Partnern an. So konnte etwa nachgewiesen werden, wie Eisenerz-Exporteure jährlich bis zu einer halben Milliarde Euro an illegalen Gewinnen aus dem Land bringen, während die einfachsten Sicherheitsstandards für die Bergleute nicht eingehalten werden.

„Wir werden auch 150 Freiwillige Wahlbeobachter entsenden“, erklärt Viknjanski und betont, dass diese Freiwilligen kostenlos arbeiten würden – ein Seitenhieb auf die vielen bezahlten Aktivisten und Unterstützer etablierter politischer Kräfte. Am Ende ist dem Leiter der Organisation noch etwas wichtig: „Wir werden irgendwann in einer freien, demokratischen Ukraine leben. Ja, wir sind Optimisten.“

Der amtierende Präsident Petro Poroschenko.

Die Frage nach der Einstellung zur gegenwärtigen Situation ist in der Ukraine tatsächlich eine entscheidende. Die vielen angeschobenen, aber unvollendeten Reformen, die begonnene, aber festgefahrene europäische Integration, der eingefrorene Konflikt mit Russland im Osten – alles scheint geeignet, um das Glas entweder als halbvoll oder halbleer wahrzunehmen. Für viele ist der Fall mehr als klar.

Taxifahrer Gennadi hupt, blinkt, tritt aufs Gas, flucht, hupt. Es ist Stoßzeit in Kiew, der Verkehr steht, und wenn es vorwärts geht, „kommt schon das nächste Schlagloch!“, regt er sich auf. Wie so viele hat Gennadi alle Politiker über, allen voran den aktuellen Präsidenten. „Als der angefangen hat, gab es für acht Hrywna einen Dollar. Heute für 28. Im Ausland fühlst du dich als Ukrainer wie ein Penner.“

Gennadi steuert in eine Lücke, die sich gerade auftut, und beschleunigt. Seine Beurteilung des Staatschefs teilen viele Ukrainer. Gennadi redet sich in Rage. „Und was tun die Europäer? Statt zu helfen, machen die sich nur die Taschen voll.“ Gennadi bremst. „Wir haben den letzten Präsidenten fortgejagt, und wir werden auch diesen kriegen. Es wird keine Amnestie geben. Keine Gnade.“

Erwartungen waren zu hoch

Was die Europäer in der Ukraine machen, weiß Andreas von Schumann zu berichten. Er leitet die Abteilung für politische Kommunikation der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. In seinem verglasten Büro über einem Restaurant mit Blick über Kiews Hügel liefert von Schumann eine andere Perspektive auf die Ereignisse – eine sehr unaufgeregte. „Es ist normal, dass die Menschen enttäuscht sind. Die Erwartungen nach dem Maidan waren zu hoch.“ Von Schumann lehnt sich in seinem Ledersessel zurück und nennt das seiner Meinung nach für die Ukraine dieser Tage zentrale Wort: „Erwartungsmanagement.“

Wer von Schumann zuhört, hört die Erzählung von einem Land, das auf dem richtigen Weg ist. Die Europa-Orientierung sei „breiter gesellschaftlicher Konsens“, die Reformen, etwa die angestrebte Dezentralisierung, würden sich auszahlen, und ohnehin sei es für das Land von Vorteil, dass es „zu Reformen verdammt“ sei. Von Schumann macht keinen Hehl daraus, dass er eine weitere Amtszeit von Poroschenko begrüßen würde, allein um der Stabilität willen. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein Land in einem kriegerischen Konflikt einen TV-Komiker zum Präsidenten wählt.“

Was in der Ukraine vor der Wahl auffällt, ist die geringe Rolle Russlands in den Debatten. Weder als Aggressor noch als Hoffnungsträger scheint der große Nachbar gerade gefragt. Alle soziologischen Erhebungen zeigen, dass die überwältigende Mehrheit die Korruption im eigenen Land für das wesentlich größere Problem hält als den Konflikt mit Russland.

Immer stärker wird dagegen die Angst vor russischen Verhältnissen, also vor einem autoritären Machtzentrum, das alle anderen Einflüsse erstickt. Wer etwa die aktuelle Stellungnahme von „Reporter ohne Grenzen“ zur Lage in der Ukraine liest, fühlt sich auch sehr an Russland erinnert. Dort heißt es: „Sicherheitsdienste von Oligarchen beschatten Redaktionen, Regierungsbeamte versuchen, kritische Recherchen zu verhindern, die Generalstaatsanwaltschaft will den Quellenschutz aufweichen. Immer öfter werden Medienschaffende mit Gewalt an ihrer Arbeit gehindert.“

Zurück an der Säule und der blauen Stopp-Hand. Wo zuvor die Studenten saßen, haben sich jetzt drei Männer in schwarzen Daunenjacken und mit kurz geschorenen Haaren niedergelassen. „Natürlich“, antworten sie kurz auf die Frage, ob sie die Flagge des Rechten Sektors gutheißen würden.

Ansonsten wollen sie ganz vieles nicht, also fotografiert oder auf Russisch angesprochen werden, überhaupt angesprochen werden – und warten, das wollen sie auch nicht mehr. „Bald starten wir einen neuen Maidan. Diesmal richtig!“, rufen sie, heiser und auf Ukrainisch. Sie schauen sich um, die Autos fahren an, Passanten strömen vorbei – alle in verschiedene Richtungen.

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