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Wirtschaft - 11.03.2019

Ein Paradies für Mieter

Pools auf den Dächern, Sozialbauten schön wie Paläste, dennoch sehr günstige Mieten: Wohnen in Wien ist etwas besonderes. Was kann sich Berlin davon abschauen?

Vorbildfunktion. So etwas wie die Seestadt Aspern gibt es in Berlin nicht, erklärt die Europäische Mietervereinigung.

Enteignungen? Mieten einfrieren? In Berlin scheint es, als sei der Sozialismus ausgebrochen – die Wohnungsnot lässt radikale Ideen sprießen. Allein im vergangenen Jahr stiegen die Mieten um 20 Prozent, durchschnittlich geben die Berliner über ein Drittel ihres Einkommens für Wohnen aus. Das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ will alle Immobilienfirmen, die in der Hauptstadt mehr als 3000 Wohnungen besitzen, gegen Entschädigung enteignen lassen – und Umfragen zeigen, dass viele Berliner das sogar begrüßen würden.

Berlin ist nicht allein: Auch in Paris oder London explodieren die Mieten. „Die Wohnkrise ist eines der drängendsten Probleme Europas“, sagt Barbara Steenbergen, Vorsitzende der Europäischen Mietervereinigung. Dass es auch anders geht, zeigt die österreichische Bundeshauptstadt Wien. Die Stadt, die regelmäßig unter die lebenswertesten Städte der Welt gewählt wird, ist beliebt und zieht viele Menschen an: Zwischen 2007 und 2017 drängten 206.000 Menschen neu in die Stadt. Wien hat mittlerweile fast 1,9 Millionen Einwohner und ist hinter Berlin die zweitgrößte Stadt im deutschsprachigen Raum. Und dennoch bleibt der Mietmarkt im europäischen Vergleich entspannt. Wie funktioniert das?

Sozialer Wohnbau für die breite Masse

Der größte Immobilienverwalter Europas hat seinen Sitz in Wien. Er heißt „Wiener Wohnen“ und gehört zu 100 Prozent der Stadt. Wien hat – anders als deutsche Städte – nie Wohnungen verkauft, sondern immer neue gebaut. 220.000 Wohnungen sind im direkten Besitz der Stadtverwaltung. Keine andere Stadt der Welt besitzt so viele Wohneinheiten. Unerwartete Preissprünge oder Kündigungen müssen die Bewohner der sogenannten Gemeindebauten keine fürchten, vonseiten der Stadt werden grundsätzlich unbefristete Verträge abgeschlossen.

Zusätzliche 200.000 Wohnungen gehören gemeinnützigen Genossenschaften, die öffentlich gefördert werden. 62 Prozent der Wiener leben in einer geförderten oder kommunalen Wohnung – das gibt es sonst nirgends. Diese Hunderttausenden Wiener zahlen zwischen fünf und neun Euro Bruttomiete pro Quadratmeter.

In Wien baut die Stadt Wohnungen für die breite Masse der Bevölkerung, nicht nur für Bedürftige. Eine Sozialwohnung ist kein Stigma, sondern die Norm. Wer sich für eine Gemeindewohnung bewirbt, darf netto nicht mehr als 46.450 Euro im Jahr verdienen, bei einer vierköpfigen Familie liegt die Grenze bei 87.430 Euro. Hier geht es also nicht um Geringverdiener. Und wer später mehr verdient, muss nicht ausziehen. Gerade deshalb leben in Wien Anwälte und Postboten oft Tür an Tür. Das Ziel der sozialen Durchmischung wird hochgehalten. Brennende Banlieues wie in Paris sind für die Wiener undenkbar.

„Wien ist aus Mietersicht ein Vorbild für ganz Europa. Sowohl die Anzahl als auch die Mietpreise der sozialen Wohnbauten sind einzigartig. Die Qualität der Bauten und die Ausstattung der Wohnungen ist ebenfalls mit keiner anderen Stadt vergleichbar“, erklärt Steenbergen. Eine Ausstellung über Wohnen in Wien zieht gerade durch die ganze Welt – mit Stationen von New York bis Hongkong. Viele Großstädte interessieren sich für das Wiener Wohnprogramm, das bereits in den 1920er Jahren startete.

Berlin verdichtet, Wien baut neue Viertel

Gerade Berlin könne einiges von Wien lernen, so Steenbergen: „So etwas wie die Seestadt Aspern gibt es in Berlin nicht.“ Sie meint damit eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas: Ein komplett neu aus dem Boden gestampftes Stadtviertel am Wiener Stadtrand. Vor ein paar Jahren waren hier Ackerland und ein stillgelegtes Flugfeld, bald leben über 20.000 Menschen in der Seestadt, die über eine für Hunderte Millionen Euro verlängerte U-Bahnlinie direkt an das Stadtzentrum angebunden ist. Ein künstlich angelegter Badesee, der so groß wie fünf Fußballfelder ist, gibt der modernen Großsiedlung ihren Namen.

„In Berlin wird bis jetzt vorrangig Zwischenraum verdichtet, in Wien werden komplette Wohnviertel neu errichtet“, so Steenbergen. Und das in einem durchaus beeindruckenden Tempo: Vom Beschluss zum Bau bis zum Einzug der ersten Bewohner hat es nur sieben Jahre gedauert. Städteplaner aus der ganzen Welt fasziniert die neue Wiener Seestadt: Die Bauten haben Saunen in den Kellern, die Wohnungen verfügen über Balkon, Garten oder Terrasse und die Stadt hat neue Schulen und Arztpraxen in die ehemalige Einöde gebaut.

„Wohnen wie die Reichen“

Schon in den 1970ern sorgte der bereits verstorbene Architekt Harry Glück mit Slogans wie „Wohnen wie die Reichen, auch für Arme“ für Aufsehen. Sein Markenzeichen waren Gemeinschaftspools auf den Dächern seiner Gemeindebauten. Eine Tradition, die sich auch in der Seestadt fortsetzt, wo die Bewohner im Sommer die Dächer für ein Sonnenbad oder einen Sprung ins kühle Nass besiedeln.

Der Wohnpark Alterlaa, den Glück entwarf, gilt bis heute als ein Vorzeigeprojekt einer funktionierenden Stadt in der Stadt. Einkaufsmöglichkeiten, Sportplätze, Schulen, Ärztezentren und andere Gemeinschaftseinrichtungen sollten wie heute in Aspern verhindern, dass eine „Schlafsiedlung“ entsteht, von der aus die Menschen nur zum Arbeitsplatz pendeln.

In Österreich macht der soziale Wohnbau generell 26 Prozent aller Mietwohnungen aus – ein Großteil davon kommt aus Wien. In Deutschland sei die Quote mittlerweile schon auf 3,9 Prozent geschrumpft, kritisiert Steenbergen. Ein weiterer Unterschied sei, dass in Berlin geförderter Wohnbau oft von profitorientierten Immobilienfirmen betrieben wird, die mit den Mieten hochgehen, sobald die Förderungen auslaufen. Das versteht Steenbergen nicht: „Als Stadt muss ich schauen, dass meine Förderungen nicht kapitalisiert werden.“ In Wien werde der geförderte Wohnbau vor allem von kommunalen gemeinnützigen Wohnbaugesellschaften und Genossenschaften betrieben, die ihr Geld reinvestieren statt Profit zu machen.

100 Jahre „Rotes Wien“

Megawohnprojekte wie die Seestadt Aspern haben in Wien Tradition. Der kommunale Wohnbau wurde in Wien quasi erfunden. Während heute – wie in Aspern – viele Millionen in die Genossenschaften und den geförderten Wohnbau fließen, baute die Stadt Wien vor Jahrzehnten viele Bauten noch einfach selbst. Der 1930 eröffnete Karl-Marx-Hof ist bis heute einer der größten dieser Gemeindebauten. Er erstreckt sich auf 1,2 Kilometern und ist das größte zusammenhängende Wohngebäude der Welt.

Rund 3000 Menschen wohnen in diesem imposanten Bau. Nur 20 Prozent der Grundfläche sind verbaut, es gibt weitläufige Grünflächen und viele Balkone – die von den Wiener Sozialdemokraten in der Zwischenkriegszeit propagierte Vision von „Licht, Luft und Sonne“ wurde hier verwirklicht. Der Bau wirkt wie ein Palast, wie eine Festung. Damals war er eine Provokation, ein roter Keil im Herzen des bürgerlichen Stadtteils Döbling. Heute ist der Karl-Marx-Hof so etwas wie ein Wiener Denkmal. Viele Touristen zieht es hierher – die Stadt hat mehr zu bieten als das imperiale Flair der Innenstadt.

Wien war 1919 die erste Millionenstadt der Welt mit einer sozialdemokratisch geführten Verwaltung. Die Sozialdemokraten feiern in diesem Jahr ihr Jubiläum „100 Jahre Rotes Wien“ – und halten dabei vor allem ihre Wohnbauprogramme hoch. Die Wohnpolitik im Roten Wien der Zwischenkriegszeit basierte laut dem Wiener Historiker Florian Wenninger auf drei Säulen: „Erstens der Fortschreibung der während des Ersten Weltkriegs eingefrorenen Mieten – der sogenannte Friedenszins. Zweitens ein eigener strikter Mieterschutz, der etwa Kündigungen unterband. Und drittens eine massive Bautätigkeit.“

Reiche zahlten erste Kommunalbauten

Die private Investitionstätigkeit sei im Roten Wien aufgrund der vielen regulierenden Maßnahmen fast zum Erliegen gekommen. „Also sprang einfach die Kommune als Bauträger ein – das war damals etwas ganz Neues. Die Mittel für diese großangelegten Wohnbauprogramme kamen aus Steuern, die gezielt Reiche ins Visier nahmen“, erklärt Wenninger. Über 60.000 Wohnungen entstanden allein zwischen 1920 und 1934, bevor die Sozialdemokratie in zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen verboten und die Bautätigkeit eingestellt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg belebte die Stadt das Wohnprogramm wieder.

Gerade durch diese lange Tradition sei das Wiener Wohnmodell für andere Städte nicht so einfach zu kopieren, erklärt Koen Smet, Stadtökonom an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Die Situation in Wien ist in einem historischen Kontext gewachsen. Insofern ist nicht alles einfach eins zu eins übertragbar.“ Was das Beispiel Wien aber zeige: „Die Wiener Gemeindewohnungen sind etwas Besonderes, aber auch andere Städte können Wohnraum durch die öffentliche Hand bereitstellen.“ Dem stimmt auch Steenbergen zu: „Es ist unmöglich in wenigen Jahren auf das Niveau von Wien zu kommen, aber irgendwann muss man damit beginnen zu bauen. Es gibt keine andere Lösung.“

Neue Bauordnung begrenzt Mieten

Wien ist zwar günstig, war die vergangenen Jahre aber nicht vor Mietsteigerungen gefeit. Auf dem privaten Markt sind die Preise ebenfalls nach oben geschossen und befristete Mietverträge zur Regel geworden. Bei einer vergleichbaren Wohnung mit 70 Quadratmetern liegt der Unterschied zwischen einer neuen Wohnung am freien Markt und einer sozialen Mietwohnung mittlerweile bei 240 Euro im Monat, rechnet die Wiener Arbeiterkammer vor. Auch die Grundstücks- und Immobilienpreise wachsen befeuert durch niedrige Zinsen seit der Krise 2008 rasant an.

Die rot-grüne Stadtregierung trat die Flucht nach vorne an und kündigte vergangenen Herbst eine neue Bauordnung an, die in den nächsten Wochen in Kraft tritt und die Gemüter erhitzt. Künftig darf bei Wohnprojekten nur noch ein Drittel der Wohnfläche frei finanziert werden, auf zwei Dritteln der Fläche muss geförderter Wohnbau stattfinden. Das bedeutet für die Mieter eine Nettohöchstmiete von etwa fünf Euro pro Quadratmeter für Wohnungen auf dieser Fläche. Die Opposition läuft Sturm dagegen – die konservative Wiener Volkspartei spricht von „Retrosozialismus“ und einer „planwirtschaftlichen Zwangsmaßnahme“.

Die Stadt als Großgrundbesitzer

Damit will die Wiener Stadtregierung bei Grundstückskäufen und Wohnprojekten noch stärker in den privaten Markt eingreifen. Zusätzlich habe die Stadt noch eigene Flächenreserven von über 2,7 Millionen Quadratmetern zur Verfügung. In den nächsten Jahren sollen wieder Tausende neue Wohnungen entstehen – nächstes Jahr muss sich Neu-Bürgermeister Michael Ludwig seiner ersten Bürgermeisterwahl stellen.

„Leistbares Wohnen darf kein Privileg für Besserverdiener sein, sondern ist in Wien ein Grundrecht. Das Thema Wohnen ist für mich ein ganz entscheidender Bereich zur Herstellung von sozialer Sicherheit in unserer Stadt“, sagt Kathrin Gaal, die dem millionenschweren Wiener Wohnbauressort als Stadträtin vorsteht. „Bekämpft werden soll die Grundstückspekulation, welche Hauptpreistreiber im Wohnbau ist“, ergänzt der grüne Ex-Gemeinderat Christoph Chorherr, der für die Regelung mitverantwortlich ist.

Sicherer Hafen für Investoren

Und scheinbar stört das streng regulierte Marktumfeld die breite Masse der Investoren nicht einmal. Die Renditen seien zwar niedriger, die Stabilität in Wien jedoch größer als in anderen Städten. In Wien könne man noch sicher sein, dass der Markt nicht überhitzt sei, hört man aus der Branche. Besser laufend niedrigere Geldflüsse als ausfallende. Zudem würden Investoren die hohe Qualität der Infrastruktur schätzen, sagt Martin Ofner, Head of Research bei der Investorengruppe CBRE. Der gut ausgebaute öffentliche Verkehr sorge etwa dafür, dass auch Flächen außerhalb der Innenstadt durch ihre gute Anbindung für Investoren interessant seien.

„Im Vergleich zu deutschen Städten werden mittlerweile ähnliche Renditen aufgerufen, allerdings bei einem geringeren Mietniveau und dadurch auch geringeren Kaufpreisen. Hier sehen die Investoren eine deutlich bessere Nachhaltigkeit sowie eine geringere Gefahr einer Blasenbildung im Vergleich zu deutschen Top-Städten“, sagt Ofner. Wien habe in den letzten Krisen die Abwärtsbewegung nie in jenem Ausmaß mitgemacht wie andere Metropolen, pflichtet auch Alexander Wlasto vom Unternehmensberater EY bei.

Österreichische Immobilienverbände klingen zwar deutlich verschnupfter, blicken aber ebenfalls positiv in die Zukunft. „Auch wenn die Tagespolitik den privaten Immobiliensektor immer wieder als Preistreiber brandmarkt und aktuelle Gerichtsentscheidungen die Rechtssicherheit im mietenregulierten Bereich nicht gerade fördern: Wachstum, demographische Veränderungen und Lebensqualität bieten auch in den nächsten Jahren eine gute Grundlage für nachhaltige Investitionen“, sagt etwa Anton Holzapfel, Geschäftsführer des Österreichischen Verbands der Immobilienwirtschaft. Zufriedenheit bei den Mietern und den Investoren gleichermaßen: In Wien kann man sehen, dass auch das möglich ist.

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