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Wirtschaft - 15.11.2018

Thomas Middelhoff sieht sich als Opfer von Justiz und Intrigen

Aus der Welt gefallen: Thomas Middelhoffs Autobiografie dokumentiert seine Zeit im Gefängnis, Mängel im Strafvollzugswesen – und fehlende Einsicht.

Seine persönliche Last. Thomas Middelhoff meint, zu Unrecht verurteilt worden zu sein.

Den Morgen des Tages, der sein Leben für immer verändern wird, erinnert Thomas Middelhoff sehr genau. Den Blick aus dem Fenster, die Wahl der Krawatte, vertraute Stimmen und Geräusche, die aus dem Erdgeschoss nach oben dringen, wo er sich für die anstehende Urteilsverkündung bereit macht. Mit „Heile Welt“ hat der ehemalige Topmanager das Kapitel überschrieben, es soll deutlich machen, wie tief er an jenem Tag stürzen wird: aus einem Kosmos der Geborgenheit und des Unbeschwertseins hinein in ein finsteres Loch. Schon in diesen Schilderungen aber wird deutlich, wie weit dieser Kosmos sich von der Lebenswirklichkeit anderer entfernt hatte. „Unten wird bereits das Frühstück für die Familie vorbereitet.“ Nicht nur Frau und Kinder warten „auf ihren angestammten Plätzen“, sondern offenkundig auch diverse private Angestellte, die ihm Akten und To-do-Listen anreichen, ihn chauffieren. Noch im Gerichtsgebäude erledigt er geschäftliche E-Mails und Telefonate. Der Termin: ein lästiger Zeitfresser offenbar für einen wichtigen Mann wie ihn.

Middelhoff glaubte an Freispruch

Als Middelhoff am 14. November 2014 wegen Untreue und Steuerhinterziehung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wird, überrascht dieses Urteil das Land – ob seiner Härte. Ihn selber überrascht es wohl in Gänze. „Für alle schien die Urteilsverkündung eine reine Formalie zu sein. An einem Freispruch gab es nicht den geringsten Zweifel.“

Es ist das große Manko seiner nun erschienenen Autobiografie, dass ihm diese Überraschung offenbar bis heute erhalten geblieben ist. Auf keiner der 291 Seiten des Buches gesteht er wirklich Fehler in seiner Funktion als Chef des zugrunde gegangenen Konzerns Arcandor ein. „Wegen angeblich vorsätzlich falsch abgerechneter 27 Flüge bin ich zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden“, formuliert er, zugleich behauptet er, Reisen privat gezahlt zu haben, die er hätte einreichen können – eine „Pattsituation“. Warum also die Aufregung? An anderer Stelle heißt es, „innerhalb weniger Stunden bin ich von einem international tätigen Manager zu einem vermeintlichen Schwerverbrecher geworden.“ Dass dieser Wandel seinen Anfang weit früher genommen haben könnte, das will er nicht wahrhaben.

Er sieht sich als „Bauernopfer“

In einem sind sich Middelhoff und seine Beobachter jedenfalls einig: Gestürzt ist er – und so heißt sein Buch konsequent „Der Sturz“, verbunden mit „A115“, der Nummer jener Zelle, in der er in der Justizvollzugsanstalt Essen eingesessen hat. Folgt man Middelhoffs Darstellung, ist er jedoch weniger über sein eigenes Fehlverhalten gestürzt, als dass er gestürzt wurde – eine große Verschwörung von Medien, Justiz, ja selbst ehemaligen Kollegen und Freunden. „Willkür“, „Opfer“ oder auch „Bauernopfer“ sind gern gewählte Begriffe, der 62-Jährige prangert „gedankenlose Urteile“ an, die unreflektiert und getrieben seien von Populismus, Neid und Schadenfreude. Man habe ihn „öffentlich hingerichtet“, eine „Hetzjagd“ veranstaltet.


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Das einstige Wunderkind der deutschen Wirtschaft rechnet ab mit Richtern, Weggefährten wie Madeleine Schickedanz („sie lügt“) oder auch der damaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, die Anzeige erstattete. Schwer erträglich ist diese fehlende Bereitschaft zur Einsicht. Wer hat Schuld an seiner Inhaftierung? Zuallererst der Anwalt Winfried Holtermüller, dessen Wahl er einen „fatalen Fehler“ nennt, die Banken, die Konten blockieren, und nicht zuletzt auch der Chauffeur, der versehentlich den falschen, abgelaufenen Reisepass ins Gericht bringt – weshalb man Middelhoff, so folgert er, Fluchtabsichten unterstellt.

Schlimme Zustände im Strafvollzug

Schwer erträglich sind aber auch die Zustände in der Haftanstalt, die Middelhoff beschreibt – und darin liegt die Stärke dieses Buchs. Zweifellos bedient es einen gewissen Voyeurismus: Wie die frühere Glanzgestalt noch im Saal verhaftet, zunächst in den Keller und von dort ins Gefängnis geführt wird, das verschafft wohl nicht nur ehemaligen Karstadt-Angestellten eine gewisse Genugtuung. Bemerkenswert detailreich und schonungslos schildert Middelhoff Praktiken und Missstände in der JVA. Wenige Stunden zuvor noch im Fond einer Limousine, muss er sich komplett ausziehen: „Meine Anzugjacke lege ich sorgfältig auf einen kleinen weiß gekachelten Mauervorsprung. Der Häftling greift nach ihr und stopft sie in einen großen blauen Müllsack“. Der Leser ist dabei, wenn sein Körper auf versteckte Gegenstände hin untersucht wird, durchwacht mit Middelhoff Nächte ohne Schlaf, weil alle 15 Minuten das Licht angeschaltet wird, um zu kontrollieren, ob er noch lebt. Er friert bei einstelligen Temperaturen hinter einfach verglasten Fenstern. Und muss schließlich ganz auf Frischluft verzichten, weil die Anstaltsmitarbeiter in den einstündigen Hofgängen ein zu großes Risiko sehen, nachdem wechselnde Insassengruppen ihm „ihren Schutz“ angeboten haben.

Ernsthaft krank – und nicht ernst genommen

Also sitzt Middelhoff am Tisch, schreibt Tagebuch und Briefe, die in dieser Welt eine Laufzeit von vier bis fünf Wochen haben. „Die überforderte Kanalisation der Haftanstalt fördert nicht selten das wieder hoch, was der Zellennachbar kurz zuvor abgespült hat.“ Als Middelhoff an einer Autoimmunkrankheit erkrankt, tut ein Amtsarzt die fortschreitenden Symptome wiederholt unbesehen als Fußpilz ab.

Wohl selten bekommt man solche Innenansichten aus dem Knastalltag. Da wird durchaus Mitleid wach. Es wäre anhaltender, fielen nicht die Innenansichten des Menschen so einseitig aus. Immerhin reflektiert er am Ende: Hedonismus sei eine Triebfeder seines Handelns gewesen. Die Rolle des Topmanagers habe er „zunehmend selbstverliebt“ ausgefüllt.

Größenwahnsinnig noch im Leid

Genug Mitleid, keine Frage, hat Thomas Middelhoff dennoch mit sich selbst. Hände zittern, das Herz schmerzt, Tränen fließen, die Familie ist traumatisiert. Nicht nur die im Buch abgedruckten Fotos von blau angelaufenen, geschwollenen Gliedmaßen machen deutlich, dass Middelhoff wohl seinen Stolz bewahrt, aber jede Scham verloren hat. „Der Sturz“ ist larmoyant, weinerlich und beweist, dass der Über- und Vielflieger „Big T“ auch im Leid noch größenwahnsinnig ist. So vergleicht er seine Situation mit der von Folteropfern in Guantanamo und der des Theologen Dietrich Bonhoeffer in seiner Todeszelle, bevor ihn die Nazis ermordeten. Mehrfach stellt er Zitate aus Kafkas „Der Prozess“ voran.

Im Gefängnis habe er zum Glauben gefunden – und sei ein anderer Mensch geworden, bescheinigt er sich selbst. Sicher ist es wahr, dass er die streng rationierten Vorräte an Knabbereien großzügig mit Mithäftlingen teilte. Aufrichtiger noch wäre diese Selbstlosigkeit, würde er sie nicht wieder und wieder auswalzen.

Nächstenliebe ist das eine. Vergebung das andere. Davon aber kann hier keine Rede sein. Dieses Buch strotzt vor Vorwürfen – Versöhnung sucht es nicht.

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