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Wissen - 14.01.2019

Beschleunigung beim einzigen Beschleuniger im Nahen Osten

Verfeindet, aber trotzdem gemeinsam forschen? Am Speicherring „Sesame“ arbeiten jetzt Wissenschaftler aus Ländern wie Iran und Israel zusammen. Ein Besuch.

Strahlefrau. Die ägyptische Biophysikerin Gihan Mohamed Kamel ist im jordanischen Teilchenbeschleuniger Sesame für die „Beamlines“…

Der Eingang erinnert an ein Märchen. Zwei majestätische Säulen umrahmen das Portal, darüber prangt auf heller Sandsteinfassade das Schlüsselwort „SESAME“. Von dem Gebäude, das etwa 35 Kilometer nordwestlich der jordanischen Hauptstadt Amman steht, soll Strahlkraft für die gesamte Region ausgehen. Buchstäblich. Denn Sesame steht für „Synchrotron-light for Experimental Science and Applications in the Middle East“, für die Nutzung von für Synchrotron-Strahlung für Forschung und Anwendung. Es ist der einzige Teilchenbeschleuniger im Nahen Osten – und es ist keine Selbstverständlichkeit, dass er jetzt tatsächlich hier steht und seinen Dienst tut.

Ein Lichtblick für den Nahen Osten

Die Idee vom Bau eines Elektronenspeicherrings in der Region entstand schon in den 1980er Jahren. Doch kaum jemand konnte an die märchenhafte Vision glauben, Ägypten, Israel, Palästina, Jordanien, Türkei, Iran, Bahrain und Zypern könnten sich auf solch ein Großprojekt verständigen – Staaten, die sich politisch spinnefeind waren und sind. Real wurde die Geschichte erst, als Deutschland 2002 den ausgemusterten Beschleuniger „Bessy 1“ aus Berlin zur Verfügung stellte. Die Bessy-Technik – aufgerüstet von 850 Megaelektronenvolt auf 2,5 Gigaelektronenvolt – wurde zum technischen Kern von Sesame. 36 Millionen Dollar flossen über die Jahre aus verschiedenen Quellen in das Projekt, mühsam akquiriert von der EU und dem Cern, der Europäischen Organisation für Kernforschung. Doch bis der Beschleuniger eröffnet werden konnte, dauerte es bis zum Mai 2017. Während der Feierlichkeiten hieß es, es sei „nur noch eine Frage der Zeit“, bis endlich Wissenschaftler aus der gesamten Region auf die Hügel von Al Balqa kommen, um gemeinsam und friedlich zu experimentieren.

Jetzt, mehr als anderthalb Jahre später, kann Giorgio Paolucci Besucher durch eine Anlage führen, in der tatsächlich geforscht wird. Der Italiener ist wissenschaftlicher Direktor von Sesame und offensichtlich stolz auf das, was er präsentieren kann. Über eine schwere Tür betritt er die riesige Halle mit dem Elektronenspeicherring, 130 Meter misst er im Durchmesser. Hier flitzen die auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigten Elektronen bis zu zwölf Stunden lang im Kreis, auf ihrer Bahn gehalten durch riesige Magnete. Das alles geschieht in einem Ultrahochvakuum, damit die Teilchen nicht durch die Kollision mit Luftmolekülen verloren gehen. Denn sie werden gebraucht – zumindest die Synchrotronstrahlung, die die Elektronen bei ihrer wilden Fahrt durch den Ring abgeben. Sie umfasst einen großen Wellenlängenbereich von Infrarot- bis zu hochenergetischer Röntgenstrahlung. Vor allem im kurzwelligen Bereich gibt es kaum Alternativen zur Synchrotronstrahlung. Das macht die Technik so wertvoll für die verschiedenen Anwendungen in Biologie, Medizin, Physik oder Archäologie.

Die Arbeit an den Beamlines läuft endlich an

Paolucci führt die Gruppe über eine Metalltreppe mit strahlend blauem Geländer – vorbei an einem gelb-schwarzen Schild mit der Aufschrift „Radiation Area – No Entry“. Der Weg führt über den mit dickem Beton abgeschirmten Speicherring in die Mitte des Beschleunigerkomplexes. Das laute Brummen der Klimaanlage und der Wasserkühlung in der Halle machen es schwer, Paolucci zu verstehen. „Im Inneren des Speicherrings würden wir Schilder sehen mit der Aufschrift ,Vorsicht, Lebensgefahr‘.“ Paolucci spricht Englisch, die letzten beiden Worte aber sagt er auf Deutsch und freut sich sichtlich über die Hinweisschilder, die mit Bessy 1 damals von Berlin nach Jordanien umgezogen sind. „Der Beschleuniger läuft immer noch super – gute solide deutsche Technik“, sagt Khaled Toukan, Sesame-Generaldirektor. Aber eine Besichtigung des Kerns der Anlage ist ausgerechnet heute nicht möglich. Eine rot blinkende Lampe signalisiert: Das Ring-Innere ist tabu, es laufen Vorbereitungen für ein Experiment.

Im Moment gibt es nach wie vor nur zwei Strahlrohre (Beamlines), über die Wissenschaftler Strahlung für ihre Versuche aus dem Speicherring leiten können. In einem davon wird Röntgenstrahlung für fluoreszenzspektrometrische Untersuchungen gewonnen, mit denen Forscher etwa Verunreinigungen im Boden des Jordan-Deltas untersuchen. Diese Messstation funktioniert schon seit 2017.

Ein Jahr später ging die Infrarot-Beamline in Betrieb, zu der Paolucci jetzt führt. Dort wartet schon die ägyptische Biophysikerin Gihan Kamel in einem betongrauen Raum, dessen Wände gepflastert sind mit Merkblättern voller Anweisungen, wie die hochkomplexe Technik zu bedienen ist. Sie zeigt auf ein Loch in der Wand, durch das mittels eines edelstahlverkleideten Spiegelsystems die Infrarotstrahlen, wenn sie vom Speicherring abgezweigt werden, zu einem Mikroskop gelenkt werden. Mehrere Spiegel mit verschiedenen Formen und Eigenschaften leiten die Strahlen so um, dass möglichst wenig davon auf dem Weg zum Präparat verloren geht. „Wir können mit der Technik viel mehr Details sehen als mit gewöhnlicher Infrarotstrahlung“, sagt Kamel. Eine Auflösung von fünf mal fünf Mikrometern sei möglich, das könne sich durchaus mit Anlagen in Europa und den USA messen.

Synchrotron-Strahlung für die Analyse religiöser Schriften aus dem 18. Jahrhundert

Als Verantwortliche für die Infrarot-Beamline bereitet Kamel gerade verschiedene Experimente vor, die etwa die Kollegen aus Pakistan in den kommenden Monaten durchführen wollen. „Die Forscher wollen versuchen, eine schnelle Methode zu etablieren, um gesundes von krankem Gewebe zu unterscheiden“, sagt sie. Das ist möglich, weil die Infrarotstrahlen mit den Eiweißen und Fetten in den Zellen wechselwirken. Es entsteht ein charakteristisches Muster, womit sich – so hoffen die Wissenschaftler – eine Diagnose stellen lässt und womöglich sogar Brustkrebs schneller identifizieren ließe.

Bei einem Experiment von Forschern aus dem Iran gehe es um etwas ganz anderes, sagt Kamal, während sie mit einer Pinzette ein paar vergilbte Seiten aus einer blauen Mappe zieht. Es sind religiöse Schriften aus dem 18. Jahrhundert. „Hier soll untersucht werden, wie die benutzte Tinte zusammengesetzt ist und wie das Papier sich zersetzt.“ Ziel sei, die Schriften so genau wie möglich zu analysieren, um sie originalgetreu restaurieren zu können. Und Gihan Kamel hat die verantwortungsvolle Aufgabe, zu entscheiden, ob die Sesame-Technik sich für das Vorhaben der Forscher eignet.

Die Forschung läuft also an – doch noch ist nicht viel los in der Beschleunigerhalle. Zwar haben Forscher an der Röntgen-Beamline vergangenes Jahr schon einzelne Experimente vorgenommen. Und gerade ist dort auch ein kleines ägyptisches Team an der Arbeit. Aber noch ist keine einzige wissenschaftliche Arbeit, bei der die von Sesame produzierte Synchrotronstrahlung genutzt wurde, publiziert worden.

Schlechte Zahlungsmoral der Mitgliedsländer

Das soll sich schnell ändern, sagt der Physiker Rolf-Dieter Heuer, Präsident des Sesame-Aufsichtsrats und ehemaliger Generaldirektor des Cern. Inzwischen seien über hundert Projektanträge eingegangen, die meisten aus Ägypten, Pakistan und Jordanien. „Das zeigt das Interesse, das insbesondere in der Gegend der Mitgliedsländer vorhanden ist“, sagt Heuer. Nun müsse geprüft und ausgewählt werden, wer die begrenzte Zeit im Beschleuniger nutzen darf.

Bis dahin soll auch das Gästehaus, finanziert durch Gelder aus Italien, mit etwa 40 Zimmern fertig sein. Bislang müssen die Forscher noch aus Amman oder gar über die Grenze aus Israel anreisen, um zu experimentieren.

Heuer freut sich, dass es mit der Forschung nach so vielen Verzögerungen nun endlich losgeht. „Es herrscht eine tolle Stimmung.“ Obwohl noch nicht alles perfekt laufe.

Damit meint er vor allem die Zahlungsmoral der Mitgliederländer. Die ist so schlecht, dass Sesame derzeit mit nur 60 Prozent seines Budgets wirtschaften muss – drei statt fünf Millionen Dollar. „Nur Jordanien, die Türkei, Israel und Zypern zahlen rechtzeitig, die anderen manchmal nur die Hälfte oder gar nichts“, sagt Generaldirektor Toukan. Die Gründe seien vielfältig, mal gebe es Sanktionen (wie im Fall des Iran), mal wechsle einfach das Personal im Ministerium eines Landes, „da ist schnell ein halbes Jahr vorbei“, so Heuer. Unter diesen Umständen aber sei es schwer, die Belegschaft, derzeit etwa 40 Mitarbeiter, zu bezahlen – oder auch nur die Stromrechnung. Deshalb entsteht im Osten von Amman gerade eine große Fotovoltaikanlage, die Strom ins jordanische Netz einspeisen soll. Damit könnte sich der Strompreis für Sesame halbieren und man wäre unabhängiger von den Zahlungen der Mitglieder.

Ohne grenzenlosen Optimismus gäbe es Sesame nicht

Dann könnte man auch mehr Mitarbeiter einstellen. Mindestens 100 brauche man, um sinnvoll forschen zu können, sagt Paolucci. Zudem soll die Zahl der Beamlines in den nächsten Jahren von zwei auf sechs steigen. Bis zu 20 solcher Strahlrohre könnten in Sesame Platz finden. Aber auch das braucht Geld – und das kommt oft von außerhalb. Erst im Oktober sponserte die Helmholtz-Gemeinschaft den Bau eines Messplatzes für weiche Röntgenstrahlung, die EU gibt Geld für eine Tomografie-Beamline.

Gihan Kamel jedenfalls hofft, dass an ihrem Infrarot-Strahlrohr bald Hochbetrieb herrscht. Es gab sogar drei Projektanträge aus Israel. Die Israelis könnten dann etwa auf Wissenschaftler aus Palästina oder dem Iran treffen, denen das Land politisch feindselig gegenübersteht. Kamel macht sich darüber keine Sorgen. „Es geht hier um wissenschaftliche Probleme, es geht um die Größe der Proben, um die Vorbereitung. Alles andere ist egal. Wissenschaft kennt keine Grenzen.“

So sieht es auch Giorgio Paolucci. „Wenn ich kein Optimist wäre, wäre ich nicht hier.“ Damit Sesame endlich richtig durchstarten kann, komme es jetzt darauf an, die ersten Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. „Damit mehr Forscher sehen, wie gut unsere Anlage ist.“

Der Autor recherchierte diesen Text auf einer von der Helmholtz-Gemeinschaft mitfinanzierten Reise.

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