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Wissen - 20.06.2019

Die „Staubsauger der Meere“ sind bedroht

Seegurken werden rar. Was das für die Ökosysteme der Ozeane bedeutet, ist kaum abzusehen.

Wertvolle Verwerter. Eine Seegurke der Gattung Holothuria, gefunden vor einer Küste der Philippinen. Die Tiere sind die…

Eine überdimensionale Wurst von der Größe eines menschlichen Unterarms. So sieht, durch die Tauchermaske, das Gebilde am Meeresgrund vor der Küste einer der Inseln Indonesiens in etwa aus. Es bewegt sich allerdings im Zeitlupentempo fort. Von „Glücksgefühlen“ spricht Sebastian Ferse, wenn er sich an solche Momente erinnert. Vor ihm geht eine Seegurke ihrem Tagwerk aus Fressen, Verdauen und Ausscheiden nach. „Das mag zwar langweilig klingen, ist aber für das Leben dort immens wichtig“, erklärt der Biologe am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen.

Einst lebte auf jedem Quadratmeter Meeresboden eine Seegurke

Die Verdauung dieser zu den Stachelhäutern gehörenden Tiere bereitet Organismen und deren Reste im Meeresgrund so auf, dass viele andere Lebewesen sie leicht verwerten können. „Früher lebte auf jedem Quadratmeter Meeresgrund eine dieser 30 Zentimeter langen Seegurken“, schätzt der Meeresökologe, „entsprechend riesige Mengen Sediment wälzten sie um.“

Am Boden der Ozeane spielen viele Seegurken, von denen etwa 1700 Arten bekannt sind, eine ähnliche Rolle wie Regenwürmer im Garten oder Ringelwürmer im Wattenmeer. Vorne stopfen sie mit ihren Tentakeln Meeresgrund in sich hinein und scheiden hinten Sand wieder aus. Dazwischen arbeitet der Darm der Seegurken: Er verdaut die im Boden lebenden Organismen und deren Überreste – oder auch Überbleibsel von Lebewesen, die nach ihrem Tod auf dem Meeresgrund enden. Ähnlich wie Regen- und Wattwürmer fördern also auch viele Seegurken Nährstoffe hervor, an die andere Organismen, die sich nicht durch den Untergrund wühlen, gar nicht herankommen. Mit ihren Exkrementen scheiden sie dieses Material in einer Form wieder aus, die andere Lebewesen gut verwerten können, und machen die im Boden verschwundenen Nährstoffe zugänglich.

Meeresforschung in Zeitlupe: Ein halbes Jahr lang Seegurken beobachten

Wie gut diese Aufbereitung des Untergrundes in der Praxis funktioniert, haben Ferse und seine Kollegen vor der Insel Vanua Levu im südpazifischen Inselstaat Fidschi untersucht. Im flachen und ruhigen Wasser zwischen der Küste und einem Korallenriff installierten sie 16 quadratische Käfige mit jeweils drei Meter langen Seiten, die sie 20 Zentimeter tief in den Untergrund gruben. Da die gemächlich kriechenden Seegurken die 80 Zentimeter über den Boden aufragenden Käfigwände nicht überklettern, konnten die Forscher nicht nur die Tiere, sondern auch ihren Einfluss auf die Umwelt ein halbes Jahr lang gut beobachten.

In einem Teil der Käfige wühlten sich jeweils 15 Seegurken der Art Holothuria scabra durch die neun Quadratmeter Meeresboden ihres Geheges. Mehr Exemplare dieser rund 15 Zentimeter lang werdenden Art verträgt eine solche Fläche kaum, legen frühere Untersuchungen nahe. Im zweiten Teil der Käfige teilten sich nur drei Seegurken neun Quadratmeter Fläche. Ähnlich sieht die Situation heute außerhalb der Käfige im Schutzgebiet vor der Fidschi-Insel Vanua Levu aus. Der dritte Satz Käfige blieb komplett leer.

Pro Jahr verdauen Seegurken auf einem Quadratkilometer über 10 Tonnen Sediment

Die Forscher beobachteten sechs Monate lang die Entwicklung: Sie wogen die Seegurken, maßen ihre Länge und registrierten weitere Daten wie etwa den Sauerstoffgehalt des Meeresgrundes. Am Ende dieser Zeit wussten sie, dass im Boden unter den Käfigen mit vielen Seegurken viel weniger Sauerstoff verbraucht wird als in den dünner oder gar nicht besiedelten Gehegen. Weil zum Beispiel zum Zersetzen toter Organismen Sauerstoff benötigt wird, schließen die Forscher, dass die Seegurken große Teile der im Meeresgrund verborgenen lebenden und toten Organismen verdaut und damit von dort entfernt haben. Auf einer Fläche von tausend Quadratmetern Meeresgrund wandern nach Ferses Berechnungen innerhalb eines Jahres durchschnittlich 10.590 Kilogramm Sediment durch die Verdauungsorgane der walzenförmigen Tiere.

Ihren Beinamen „Staubsauger am Meeresgrund“ tragen die Tiere also offenbar sehr zu Recht. Sie stopfen dort so ziemlich alles Fressbare in sich hinein. Es ist eine Eigenschaft, die eigentlich heutzutage besonders wichtig ist, denn große Mengen Nährstoffe werden mit dem Dünger, der von Feldern gewaschen wird, oder mit Abwässern ins Meer geschwemmt. Davon ernähren sich mehr Organismen als früher, deren Überreste nach ihrem Tod auf den Meeresgrund rieseln. Wenn nicht Seegurken dieses Material zu großen Teilen vertilgen, ernährt es winzige Algen. Die können sich mit dieser Hilfe rasch vermehren und so Korallenriffe oder Seegraswiesen überwuchern.

Seegurken verschwinden – vor allem in asiatischen Küchen

Dass Seegurken diese Rolle als Biomüllverwerter am Meeresgrund noch immer genügend erfüllen, bezweifelt ZMT-Forscher Sebastian Ferse. Er hat allen Grund dazu: „Es gibt heute kaum noch Seegurken“, sagt er. Die Zeiten, da im Durchschnitt eine Seegurke jeden Quadratmeter Meeresgrund bearbeitete, sind jedenfalls vielerorts vorbei. Heute muss Ferse etwa vor den Küsten Indonesiens meist etwa eine Stunde lang tauchen, bevor er die erste dieser auch „Seewalzen“ genannten Verwandten von Seelilien, Seesternen und Seeigeln entdeckt.

Ein Grund für das Verschwinden der Seegurken steht in chinesischen Koch- und Heilbüchern: Nach einem recht aufwendigen Verfahren werden die Tiere gesalzen, gekocht, anschließend ein paar Stunden geräuchert und dann in traditionellen Suppen verspeist. So zubereitete Seegurken sollen auch diverse Leiden lindern und – wie so vieles von Nashornpulver bis zerhacktem Schildkrötenpenis – die Manneskraft steigern. Entstanden ist dieser wissenschaftlich nicht untermauerte Glaube wohl einerseits aufgrund des phallischen Aussehen der Tiere und andererseits aus frühen Beobachtungen ihres Sexuallebens: Männchen stellen sich senkrecht ins Wasser und geben ihre weißliche Samenflüssigkeit ab, während die Weibchen in der gleichen Position eine gelbliche Flüssigkeit mit Eizellen absondern. Selbst im Italienischen heißen Seegurken auch „cazzo di mare“, was man mit „Meeres-Penis“ – oder auch verwandten, etwas derberen Begriffen – übersetzen kann.

Jährlich werden 30.000 Tonnen Seegurken gefischt

„Jedes Jahr sollen inzwischen 30.000 Tonnen Seegurken aus dem Meer geholt werden“, sagt Sebastian Ferse. Es ist die vorläufige oder – wie Meeresökologen befürchten – letzte Kulmination einer langen Tradition. Bereits vor 400 Jahren scheinen chinesische Händler Seegurken in Indonesien eingekauft zu haben. Vor 200 Jahren wurden bereits die Küsten Australiens für den chinesischen Markt erschlossen und heute werden auf den Märkten einige Hundert US-Dollar für ein einziges Kilogramm gezahlt. Für diesen Preis riskieren oft junge Taucher mit wenig Erfahrung inzwischen auch vor den Inseln der Südsee ihr Leben, um Seegurken zu ernten und damit ein paar Dollar zu verdienen. Das große Geld machen allerdings die Händler am Ende einer solchen Verkaufskette.

An vielen Küsten sind die Seegurken inzwischen nahezu verschwunden. Dort fällt ein zentraler Bestandteil der Ökosysteme praktisch aus. Ergebnis können nicht nur Algenblüten sein, sondern auch eine Verhärtung des Meeresgrundes, der anderen Organismen das Leben erschwert und dazu führt, dass abgestorbenes Material immer wieder aufgewirbelt wird und das Wasser eintrübt.

Die Fidschi-Inseln und andere Südseeregionen haben inzwischen ein Moratorium verhängt, das den Fang der Seegurken verbietet. Und am ZMT tüfteln Forscher an Aquakulturen, in denen neben anderen nutzbaren Meeresbewohnern auch Seegurken wachsen.

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