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Wissen - 19.11.2018

Fatale Riesenwellen im Kopf

Manchmal entladen sich Hirnzellen massiv. Das von außen zu messen, könnte Leben retten. Neurologen sind den Stürmen im Kopf auf der Spur.

Einsicht. Entladungswellen gehen im Gehirn Ereignissen von Migräneanfällen bis hin zum Hirntod voraus. Sie lassen sich bislang nur…

Es waren schwierige Tage für Jed Hartings von der neurochirurgischen Klinik an der Universität Cincinnati. Er begleitete Anfang 2018 einen knapp 30-jährigen Bauarbeiter, der aus achtzehn Metern in die Tiefe gestürzt war. Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma mit inneren Blutungen. Dabei schwillt das Hirngewebe enorm an. Damit der Patient nicht am sich aufbauenden Hirndruck sterben würde, öffneten Neuorchirurgen seinen Schädel zum Druckausgleich, ein Standardeingriff. Dabei platzierten sie auch eine Elektrode in seiner grauen Substanz. Sie sollte Hartings helfen, einem besonderen Phänomen auf die Spur zu kommen.

Die Katastrophe auf dem Monitor

Hartings erforscht sich ausbreitende riesige Entladungswellen im Gehirn. „Spreading Depolarization“ heißen sie im Fachenglisch, kurz „SD“. Sie sind oft Vorboten von Hirnschädigungen. Hartings beobachtete sie auch bei dem jungen Mann. Alle zwanzig Minuten flutete eine Welle dessen Hirngewebe und legte Nervenzellen lahm. Drei Tage ging das so. Hartings hielt es kaum aus: „Ich sah auf den Monitor und wusste, das ist eine Katastrophe.“ Die Ärzte sind hilflos. Dann erlöschen die Signale. Hartings greift zum Telefon, informiert die Angehörigen. Ihm ist elend zumute. Er hat den Tod, als Welle, kommen sehen.

Im Nervenzellgewebe können sich Riesenwellen kreisförmig ausbreiten und rhythmisch wiederkehren. Sie sind mitunter Vorboten einer Migräne, eines Schlaganfalls und vor allem der unwiederbringlichen Schädigung von Hirngewebe bis hin zum Hirntod. „Erst in den letzten Jahren ist klar geworden, welch immense Bedeutung sie haben“, sagt Jens Dreier, Neurologe an der Berliner Charité. „Wir werden die SDs eines Tages mit Medikamenten behandeln, um Schlimmeres abzuwenden, und werden sie messen, wie wir heute den Blutdruck messen“, glaubt er.

Geschwollene Hirnzellen

Eine SD hat verheerende Folgen. Mit ihr erlischt die Fähigkeit des erfassten Areals zum Denken. Im gesunden Zustand sind die Nervenzellen geladen und haben ein Spannungspotenzial von -70 Millivolt. Nur so können sie feuern – und wir denken. Mit der Entladungsfront bricht das Potenzial auf 10 Millivolt ein und verharrt mindestens eine gute Minute in diesem fast ungeladenen Zustand. Kein Denken, kein Wahrnehmen.

Mit der Entladung kippt auch das Stoffgleichgewicht in den Zellen. Kaliumionen strömen aus den Zellen. Natrium-, Kalzium- und Chloridionen drängen hinein. Die Zellen versalzen. Sie ziehen Wasser und schwellen um 70 Prozent über ihr ursprüngliches Volumen an. In einem Dominoeffekt breitet sich die Entladung auf benachbarte Zellen aus.

Nach einigen Minuten regenerieren sich die Nervenzellen aber gewöhnlich wieder. Membranpumpen springen an und schleusen das Zuviel an Salz hinaus, sodass sich der Stoffhaushalt normalisiert. Diese Rettungsaktion kostet den Körper viel Energie. Und sie gelingt auch nicht beliebig oft. „Je häufiger eine Riesenwelle eine Zellregion durchstreift, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Zellen unwiederbringlich geschädigt werden und sterben“, sagt Dreier.

Der Berliner untersucht die Wellen bei Patienten, die bei einem Schlaganfall eine Subarachnoidalblutung im Gehirn erlitten haben. Dabei platzt ein Gefäß und das Blut ergießt sich zwischen zwei Hirnhäuten. Die Abbauprodukte des Blutes provozieren nach rund sieben Tagen oft weitere Schlaganfälle. Nicht wenige Patienten sterben. Andere überleben, tragen aber schwere Beeinträchtigungen davon.

Dreier weiß aus mehreren Studien an einigen Dutzend Patienten: Besonders gefährdet, einen weiteren Schlaganfall zu erleiden oder sogar zu sterben, sind jene, in deren Gehirn viele und lang anhaltende Riesenwellen um den Infarktherd kreisen. Bei einigen Patienten zählte Dreier über hundert. Manche breiteten sich im Uhrzeigersinn aus, andere entgegen dem Uhrzeigersinn. In der Randregion eines Infarkts haben die Entladungsfronten es besonders leicht. Die Zellen sind schon in Mitleidenschaft gezogen. Die Kaliumionenkonzentration ist erhöht, die Versorgung mit Sauerstoff vermindert. Wunde und Welle gehören zusammen.

Die Wellen sind nicht alle gleich. Die SD vor einer Migräne breitet sich mit drei Millimetern pro Minute in der Sehrinde kreisförmig nach außen aus. Sie gleicht der Welle, die entsteht, wenn ein Stein in einen See fällt. Jede Nervenzelle wird nur einmal erfasst. Diese SD verursacht vor den Augen der Patienten flirrende, zackige Muster, die sogenannte Aura.

Elektroden im Kopf

Wellenfronten vor einem Zweit-Schlaganfall dagegen breiten sich stets um den ursprünglichen Herd aus, malträtieren also immer wieder dasselbe Gewebe. Unmittelbar vor dem neuen Schlaganfall baut sich eine besonders hohe, langsame Welle auf. Ihre Spannungsverschiebung liegt bei 45 statt üblichen etwa 10 Millivolt. Die Megawelle verweilt an jedem Ort, den sie erreicht, sodass sie drei Stunden und länger im Gehirn wütet. „Sie ist fatal und schädigt die Zellen so sehr, dass sich ein neuer Infarkt aufbaut“, sagt Dreier.

Oft liegen seine Patienten zehn Tage mit den Elektroden im Kopf auf der Intensivstation. Dreier fängt so Welle für Welle ein. Diese Aufzeichnungen brachten auch eine überraschende Erkenntnis mit sich, die der Neurologe 2018 öffentlich machte: Bevor Patienten starben, kündigte sich der Tod mit einer massiven Wellenfront an, die immer größere Hirnareale erfasste. „Sich ausdehnende Riesenwellen treten an der Schwelle zwischen Leben und Tod auf, sind aber nicht der Tod an sich, weil sich das Gewebe bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder erholen kann, sollte die Durchblutung und damit die Energieversorgung wieder einsetzen.“

Lange wurde die Forschung kaum ernst genommen. „Noch heute muss man vielen Ärzten erklären, dass die Wellen kein exotisches, sondern ein alltägliches neurologisches Phänomen sind“, sagt Hartings. Es sei „unglaublich, wie langsam sich neue Erkenntnisse oft verbreiten.“

Entdeckt, vergessen, wiederentdeckt

Dabei hatte der Brasilianer Aristides Leão die Wellen schon 1944 entdeckt. Er wollte die Krampfanfälle bei Epileptikern verstehen. Er verkabelte das Nervengewebe betäubter Kaninchen mit einer Stimulationselektrode und sieben Ableitungselektroden. Dabei sah er, wie sich nach einer Stimulation eine Entladungswelle mit drei Millimetern pro Minute fortpflanzte. Es war bald klar, dass es sie wohl in allen Nervengeweben geben kann, ob bei Maus, Kaninchen oder Grashüpfer. Aber weil sie damals niemand im menschlichen Gehirn nachweisen konnte, geriet die Erkenntnis in Vergessenheit.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends änderte sich das, unter anderem weil die Schweizer Neurologin Nouchine Hadjikhani eine unkonventionelle Idee hatte. In ihrem Team an der Harvard Medical School in Boston ist ein Migräniker, den die Attacken zuverlässig nach zu intensivem Basketballspiel peinigen. Sie kündigen sich mit einer ausgeprägten Aura an. „Wir gingen also zu einem Platz nahe am Institut und spielten so lange, bis er die Vorboten wahrnahm, dann rannten wir alle zum MRT und scannten ihn“, erzählt Hadjikhani. Im Hirnscan sah sie eine riesige Welle, die sich langsam vom hinteren Pol des Gehirns nach vorne schob.

Depolarisationswellen messen wie den Blutdruck

Hartings und Dreier arbeiten nun an einer Methode, die Wellen durch die Schädeldecke hindurch zu detektieren. Dann könnten sie SDs nicht nur auf Intensivstationen, sondern bei jedem Kranken und Gesunden erfassen. Bislang allerdings überlagert das normale Feuern der Hirnzellen diese meist auf kleine Areale beschränkten Signale, wenn Elektroden auf die Kopfhaut geklebt werden. Nur ein Computerprogramm kann diesen Signalsalat filtern, glaubt Hartings.

Ziel ist letztlich, auch Arzneien zu finden, um die Welle im Kopf zu stoppen. „Es wäre wirklich großartig, wenn ich nicht nur Wellen aufzeichne, sondern mit den Daten auch etwas für die Kranken getan werden kann“, sagt Hartings.

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