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Wissen - 05.12.2018

Grundschulpädagogen wehren sich gegen „Fake News“

Zeugnisse ohne Noten und die neue Grundschrift: Der Grundschulverband verteidigt Methoden im Unterricht mit einem „Faktencheck“.

Vertieft. Schreiben mit der Anlauttabelle schadet nicht, sondern ist Grundlage für das Lesen und Voraussetzung für richtiges…

Schulthemen sind Aufregerthemen. Allgemeiner Leistungsverfall, mangelnde Orthografie, unleserliche Handschriften und Kuschelpädagogik statt Leistungsorientierung: Solche Thesen garantieren hierzulande mediale Aufmerksamkeit. Für den Grundschulverband, in dem seit 1969 unter anderem Grundschulen, Lehrerinnen und Lehrer, Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler organisiert sind, handelt es sich jedoch um „Fake News“. Politik, Medien und Stammtische – aber auch Verbandsvertreter aus den Gymnasien – bedienten damit „kulturpessimistische Befürchtungen um die Bildung der nachfolgenden Generationen und ihre „Marktchancen“, schreiben Verbandsmitglieder aus der Bildungsforschung und aus der Schulpraxis jetzt in einer am Sonntag veröffentlichen Broschüre mit dem Titel „Faktencheck Grundschule“.

Den „Vorurteilen“ gegenüber neuen Methoden in der Grundschule müsse man entgegentreten, heißt es. Denn der Streit werde zulasten der Lehrerinnen und Lehrer ausgetragen. „Sie müssen sich am Elternabend für falsche Annahmen rechtfertigen“, sagt Jörg Ramseger, Professor i.R. für Grundschulpädagogik an der FU Berlin und Mitautor des „Faktenchecks“. Bildungspolitiker neigten zudem zu „Schnellschüssen“, die in den Alltag der Schulen eingreifen. Neben Ramseger haben weitere bekannte Bildungsforscher wie Hans Brügelmann mitgewirkt. Wir fassen zentrale Argumente aus der Broschüre zusammen.

Was Schüler heute können

Die Behauptung „Die Schülerleistungen werden immer schlechter“ sei „in dieser Form schlicht falsch“, urteilt der Grundschulverband. In der Rechtschreibung seien die Ergebnisse von Untersuchungen über längere Zeiträume vielmehr höchst widersprüchlich. Von 16 Analysen für die Zeit zwischen 1945 bis 2000 „fanden vier eine Verschlechterung, drei eine Verbesserung und neun entweder konstante oder schwankende Leistungen“, heißt es. Verlässlich seien die Vergleiche aber kaum, weil sie die Rechtschreibkenntnisse verschiedener Altersgruppen und in unterschiedlichen Textformen wie Aufsatz oder Diktat verglichen.
Doch auch „fünf forschungsmethodisch solidere Studien“ zwischen 2000 und 2016 ergaben kein eindeutiges Bild: je zwei Mal hätten sich verschlechterte beziehungsweise verbesserte Leistungen gezeigt, einmal waren sie über sechs Jahre konstant.

Früher wurde mehr im Kopf gerechnet

Kaum möglich seien Langzeitvergleiche im Rechnen, weil „früher“ mehr im Kopf gerechnet wurde, heute aber mehr das mathematische Modellieren und Problemlösen im Alltag gefragt sei. Das gelte auch für Schreibkompetenzen: Alltagsrelevant sei weniger das Schreiben nach Diktat als vielmehr die Fähigkeit, eigene Texte selbstständig zu überarbeiten.
Die Pädagogen geben aber zu, dass die Rechtschreibkenntnis heute nach dem Ende der Grundschulzeit weniger weit entwickelt sein kann als früher. Tatsächlich spiele die Rechtschreibung im Deutschunterricht eine geringere Rolle, die Zahl der Deutschstunden wurde reduziert. Dafür sei aber auch nach der Grundschule „noch mit bedeutsamen Entwicklungsschritten zu rechnen“, wie etwa eine Studie von 2013 zeige.

Wie Kinder schreiben lernen

Öffentlich immer wieder angeprangert werden auch die Methoden des Schreibenlernens: „Schreiben nach Gehör“ sei schädlich und müsse verboten werden. Diese Methode existiere gar nicht, wenden Ramseger und Kollegen ein. Gemeint sei, dass Kindern lernen, sich beim Schreiben an ihrem Sprechen zu orientieren, indem sie den Sprechlauten mithilfe einer Anlauttabelle passende Buchstaben zuordnen. Mit dieser Tabelle können Kinder schnell eigene Wörter und Texte schreiben – und gleichzeitig lesen lernen. Das Konzept „Lesen durch Schreiben“ werde aber kaum in Reinform angewandt, sondern in die Arbeit an Lauten, Buchstaben und in kindgerechten Lesestoff „eingebettet“, heißt es.

So lernten die Kinder, dass unsere Sprache „keine reine Lautschrift, sondern ein genormtes System mit verabredeten Schreibweisen“ ist. Allerdings müssten sie schon „im Laufe der ersten Klasse Schritt für Schritt auf orthografische Besonderheiten hin orientiert werden“.

Die frühe „lautgerechte Verschriftung von Wörtern“ dürfe aber nicht übersprungen werden: Längsschnittstudien zeigten einen hohen Zusammenhang mit späterer Richtigschreibung. Falschschreibungen prägten sich in der ersten Phase auch nicht ein, denn die Kinder konstruierten die Wörter ohnehin immer wieder neu.

Die Grundschrift führt nicht zu schlechter Handschrift

Ebenso verteidigt der Grundschulverband die von ihm seit Jahren propagierte „verbundene Grundschrift“ – gegen die Behauptung sie bewirke unleserliche Handschriften. Die Grundschrift geht von der Druckschrift aus, die Erstklässler zuerst erlernen. Allmählich werden die einzelnen Buchstaben mit Bögen untereinander verbunden. So könnten Grundschüler aus den ersten Buchstaben bruchlos eine persönliche Handschrift entwickeln, heißt es. Die bis heute noch üblichen Schriften, die Kinder je nach Bundesland nach der Druckschrift erlernen – die Lateinische, die Vereinfachte oder die Schulausgangsschrift – dagegen seien „wegen des Bruchs der Schreibentwicklung schädlich“.

Viele Tests bringen noch keine Verbesserung

Gegen die These „Mehr Tests steigern die Leistungen von Schülern, Lehrern, Ländern“ wendet der Grundschulverband ein, allein die Tests brächten gar keine Verbesserungen. Das Versprechen, dass Lehrkräfte und Schulen durch Vergleich und Wettbewerb Qualitätssprünge machen, werde nicht eingelöst. Bei internationalen Vergleichen der Leseleistungen von Viertklässlern liege Deutschland seit 1991 im Mittelfeld, zuletzt sogar mit einer leichten Tendenz nach unten. Dass seit Beginn der 2000er Jahre verstärkt getestet wurde, habe also „keine positiven Auswirkungen“. In Deutschland verbessert hat sich Hamburg – aber nicht wegen der dort eingeführten regelmäßigen Kontrollen, heißt es. Vielmehr habe Hamburg mehr als andere Bundesländer mit schlechten Leseleistungen in seine Grundschulen investiert und umfangreiche Fördermaßnahmen gestartet. Zudem hätten auch „weniger testorientierte Bundesländer“ wie Berlin und Schleswig-Holstein zuletzt „deutliche Zugewinne“ erzielt. Angebliche „Abstürze“ in Rankings dagegen beruhten häufig nur auf wenigen Punkten bei einem Mittelwert von 500 Punkten, beklagt Ramseger. Sie kämen zustande, weil gleichzeitig andere Länder aufsteigen und an den „Verlierern“ vorbeiziehen.

Punktuellen Tests misstraut der Grundschulverband ohnehin: Sie seien stark abhängig von der Tagesform der Schüler und bildeten nur kleine Ausschnitte von dem ab, was der oder die Einzelne kann. Stattdessen setzen die Pädagogen auf die „begleitende Lernbeobachtung“ durch die Lehrkräfte. Nur sie könnten je nach den individuellen Leistungsvoraussetzungen Lernfortschritte beurteilen.

Was Zeugnisnoten aussagen

Doch wie sollen die Lehrkräfte den Lernstand dokumentieren? Den traditionellen Ziffernnoten von 1 bis 6 will der Grundschulverband kein zu großes Gewicht gegen. Der Aussage „Zeugnisse ohne Noten sind ein Angriff auf das Leistungsprinzip“ wird vehement widersprochen. Um zum Lernen motiviert zu werden, bräuchten Schüler keine Noten. Schulsysteme, die früh benoten, hätten in internationalen Leistungsvergleichen keine Vorteile. Und Reformschulen ohne Noten seien durchaus erfolgreich. Ziffernnoten seien nicht „fair“, sondern hingen von subjektiven Maßstäben der Lehrkräfte und von der jeweiligen Klassenzusammensetzung ab.

Abschaffen will der Grundschulverband die Noten aber offenbar nicht. Gefordert seien „Mehrperspektivität und Dialog“. Das gelinge am besten in Lerngesprächen zwischen Lehrkraft, Kind und Eltern. Dabei sollten Fortschritte und Schwierigkeiten gemeinsam bewertet werden – und am Ende verpflichten sich alle auf die nächsten Lernschritte. Dahinter steht ein Verständnis von Leistung als das, „was jemand unter gegebenen Bedingungen aus seinen persönlichen Möglichkeiten macht“. Die „3“ in Deutsch bedeute bei einer neuzugewanderten Migrantin etwas anderes als bei einem sprachbegabten deutschen Kind, das sich aber wenig angestrengt hat.

Wie Hausaufgaben wirken

Die soziale Herkunft sei auch ausschlaggebend dafür, ob Hausaufgaben sinnvoll sind. Die einen haben Ruhe beim Arbeiten und Eltern, die ihnen bei Schwierigkeiten kompetent helfen können, die anderen nicht. „Eltern sind nicht die Hilfslehrer der Nation“, betont der Verband. Sicher sei es hilfreich, Vokabeln abzufragen, fördern könne man aber auch mit Vorlesen, gemeinsamem Spiel oder Museumsbesuchen. Und das Basisprogramm des Lernens gehöre ohnehin in die Schule – am besten in die Ganztagsschule. Die These „Mehr Hausaufgaben fördern das Lernen und steigern die Leistung“ halten die Autoren deshalb für verfehlt.

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