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Wissen - 10.01.2019

Jüdisches Exil in Kunming

Drei Berliner Familien konnten 1939 nach China flüchten. Sie überlebten so den Holocaust – in einer Stadt, die um ihre Existenz kämpfte.

Zufluchtsort. Die Familie Liebenthal in Kunming im Dezember 1942. Kunming galt schon damals als Stadt der Vielfalt.

Nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 mussten viele jüdische Familien Deutschland verlassen. Sie suchten verzweifelt nach Exilorten in aller Welt. Schanghai wurde für mehr als 20.000 Juden zum letzten Zufluchtsort, denn für diese inzwischen japanisch besetzte Stadt mit ihren kolonialen Enklaven, die unter britischer, französischer und amerikanischer Herrschaft standen, wurde ein Visum meist nicht verlangt.

Das Schanghaier Exil ist bereits gut dokumentiert. Kaum bekannt ist, dass auch im noch von nationalchinesischen Truppen gehaltenen Südwesten des Landes Flüchtlinge aufgenommen wurden. Drei Berliner Familien jüdischer Herkunft verschlug es nach Kunming – dort bereits lebende Familienangehörige und Freunde halfen ihnen bei der Einreise.

Kunming war die wichtigste Stadt gegen die japanische Invasion

Am 5. Februar 1939 brachen Erich Michelsen und seine Frau Katharina vom Flughafen Tempelhof aus nach Kunming auf. Kunming, die zweitgrößte Stadt in der Provinz Yunnan, war jetzt neben Chongqing, der Hauptstadt der nationalchinesischen Regierung unter Jiang Kaishek, die wichtigste Stadt des chinesischen Hinterlandes im Kampf gegen die japanische Invasion.

Der 60-jährige Michelsen war unter den Tausenden Berlinern, die in der Pogromnacht in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurden. Nach zehn Tagen – und mit der Zusicherung, seinen Wohnsitz in China nehmen zu wollen – war er auf Intervention des Auswärtigen Amtes wieder freigelassen worden.

Michelsen war ab 1901 lange in China tätig gewesen. Als er im Herbst 1933 zum Generalkonsul für Schanghai ernannt worden war, verhinderte die SS wegen seiner jüdischer Herkunft die Entsendung. Der verdiente Diplomat wurde entlassen, hatte dann im Chinageschäft der Firma Otto Wolff gearbeitet, bis ab 1937 auch hier die Rassengesetze umgesetzt wurden. In China hoffte Michelsen mithilfe seiner früheren Kontakte ein Auskommen zu finden. Denn wie alle Emigranten kam er ohne Hab und Gut, nur mit dem, was das Ehepaar tragen konnte.

Gekündigt und verfolgt wegen der jüdischen Herkunft

Im Februar 1939 verließen auch Rechtsanwalt Rudolf Nothmann, seine Frau Margarethe und der elfjährige Michael Berlin mit dem Ziel Kunming. Zwei Monate waren sie unterwegs, mit dem Dampfer nach Hongkong, dann mit Bummelzügen nach Kunming. Auch Rudolf Nothmann war nach Sachsenhausen verschleppt worden. Nach vier Wochen kam er frei, sein Bruder Erich, der seit Anfang der 30er Jahre für Otto Wolff in China gearbeitet hatte, hatte ihm ein Visum beschaffen können. Wie Michelsen war auch er wegen seiner jüdischen Herkunft von der Firma Otto Wolff gekündigt worden. Er hatte in Kunming die Firma Teissier Chine gegründet, eine Niederlassung von Renault und wichtig für das gesamte Transportwesen.

Im Juli 1939 reiste Charlotte Liebenthal mit ihrem sechsjährigen Sohn Walter aus Berlin ab, sie hatte gerade noch Tickets für einen der letzten völlig ausgebuchten Dampfer von Hamburg Richtung Fernost bekommen. Auch sie als sogenannte „Arierin“ konnte nur wenig Gepäck und erst recht keine Devisen mitnehmen. Charlotte Liebenthal wollte nach Kunming, um dort mit ihrem Mann leben zu können. Walter Liebenthal war Buddhismus-Experte, er hatte bereits Ende 1933 Deutschland verlassen, für ihn als sogenannten „Mischling“ gab es keine Möglichkeit, auf seinem Fachgebiet zu arbeiten. Er hatte sich in Peking eine Existenz aufgebaut, die dann durch die japanische Besetzung zerstört worden war. Wie seine Kollegen und die Studierenden der Pekinger Universitäten wählte auch er die Flucht ins unbesetzte Landesinnere.

Fast täglich bombardierte Japan die Stadt

Kunming, etwa 2000 Meter hoch gelegen, mit einem milden Klima, war eine Stadt, eingeschlossen von breiten Stadtmauern, die zu dieser Zeit ihrer Architektur und Lebensart nach noch sehr traditionell wirkte. Sie war – und ist es bis heute – auch eine Stadt der Vielfalt. Neben Han-Chinesen leben hier, wie in der Provinz Yunnan insgesamt, Yi, Bai und Miao, Ethnien mit eigenen Religions- und Lebensformen. Die Stadt war 1939 voller Flüchtlinge aus den japanisch besetzten Gebieten Chinas, Wohnraum war knapp, die Versorgungslage schwierig. Die drei Berliner Familien mussten wie ihre chinesischen Kollegen und Freunde um ihre Existenz kämpfen. Nur wenige Ausländer lebten in der Stadt, Diplomaten, Missionare und die wenigen jüdischen Emigranten: zwölf zu Anfang des Jahres 1940.

Mit dem Kriegsbeginn in Europa am 1. September 1939 verschlechterte sich die militärische Lage. Die Verbindung zu Deutschland wurde nach der japanischen Besetzung Indochinas 1940 abgeschnitten, japanische Kampfflugzeuge bombardierten fast täglich Kunming. Die Bevölkerung floh bei Fliegeralarm panisch in das hügelige Vorland vor den Stadtmauern, es gab keine Schutzräume.

Zuflucht in einem dörflichen Tempel

Wer konnte, suchte Unterkunft auf dem Land. Die Michelsens zogen in den Seitenflügel eines dörflichen Tempels, die Nothmanns suchten ebenfalls Zuflucht in einem entlegenen Dorf. Der zwölfjährige Michael lernte schnell den lokalen Dialekt, integrierte sich leicht in das Dorfleben, spielte gemeinsam mit den Kindern, half mit in den Reisfeldern, die Familie wurde zur großen Hochzeitsfeier eingeladen.

Die Liebenthals fanden Schutz in einem sehr armen Dorf, nahe der ebenfalls evakuierten Mittelschule der Tongji-Universität, an der Walter Liebenthal Deutsch unterrichtete. Die von Deutschen lange besonders geförderte Mittelschule war in einem katastrophalen Zustand. Die Schüler lebten in völlig unzureichenden, nicht heizbaren Unterkünften, hatten kaum genug zu essen. Liebenthal bekam sogar kurzzeitig bis Juli 1941 vom deutschen Konsulat finanzielle Unterstützung.

Für die Emigranten war das Leben in den fernab gelegenen Bergdörfern härter als in der Stadt. Die Dorfbewohner waren arm, arbeiteten schwer auf den Feldern, doch sie waren freundlich und halfen den Geflüchteten, ließen sie auch an ihren Ritualen und an den Gebeten um Regen teilnehmen. Die Liebenthals akklimatisierten sich, stellten auf Selbstversorgung um, bauten Gemüse an, hielten Hühner. Eine junge Frau mit ihrem Baby wohnte eine Zeit lang mit ihnen zusammen, Charlotte Liebenthal übte mit ihr Chinesisch. Nur Sohn Walter lernte den Dialekt, er besuchte die Schule im Tempel, suchte sich inmitten der Dorfjungen zu behaupten. Die Familie war vor den japanischen Bomben in Sicherheit, doch es drohten Krankheiten: Malaria und Flecktyphus waren weitverbreitet. Als Walter Liebenthal im März 1941 Flecktyphus bekam und sein Zustand sich – ohne Medikamente vor Ort – bedrohlich verschlechterte, wurde er von den Nachbarn bei fast 40 Grad Fieber in der Sänfte stundenlang zur Eisenbahnstation getragen. Dort bekam er mit Mühe einen Liegeplatz im vollgestopften Zug und erreichte noch rechtzeitig das französische Krankenhaus in Kunming. Er erholte sich.

Die Lebensbedingungen verschlechterten sich dramatisch

Anfang 1941 kehrten die Nothmanns wieder nach Kunming zurück, im Herbst des Jahres auch Walter Liebenthal, Frau und Sohn erst 1942. Die Bombardierungen hatten aufgehört. Seit Dezember 1941 wehrten die Flying Tigers, US-Freiwilligenverbände, die japanischen Bomber ab, ab Herbst 1942 baute die American Air Force in Kunming ihren Stützpunkt im Kampf gegen Japan auf; die Burma-Straße, die Versorgung nach Indien, wurde wieder frei. Der zeitweise gefürchtete japanische Angriff auf die Provinz war abgewehrt worden.

Die militärische Bedrohung war überstanden, doch die Bevölkerung, auch die Berliner Familien, konnten noch nicht aufatmen. Denn die Lebensbedingungen in Kunming verschlechterten sich dramatisch weiter. Viele Häuser waren zerstört, bewohnbare Räume schwierig zu finden. Die stark angestiegene Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, war noch schwieriger. Die Inflationsrate war hoch. Die Liebenthals drängten sich zeitweise in einem Zimmer zusammen, die Männer aus Berlin suchten durch Unterricht wenigstens einen Teil des Lebensunterhalts zu sichern. Liebenthal unterrichtete wieder Deutsch an der Universität, konnte sich auch wieder fachlich austauschen. Doch es drehte sich weiter alles um die Sicherung der materiellen Existenz. Die Gehälter waren so niedrig, dass alle durch Zweitjobs dazuverdienen mussten. Viele Professoren und Studenten hungerten. Walter Liebenthal gab zusätzlich Privatstunden. Charlotte Liebenthal gelang es dank ihrer Nähkünste, eine kleine Werkstatt mit chinesischen Näherinnen aufzubauen, Puppen, Stofftiere und Pyjamas zu nähen und zu besticken. Auch Margarethe Nothmann nähte, um die Familie zu unterstützen.

Zurück an die Universität in Peking

Ein geregelter Schulbesuch war unter den Umständen für ihre Söhne nicht möglich. Michael arbeitete bereits als Lehrling in einer Autowerkstatt und in einer kleinen Metallwarenfabrik, dort bekam er eine Mahlzeit.

1943 konnten die Nothmanns Kunming verlassen, Sohn Gerhard, der bereits in den USA war, hatte es geschafft, ihnen ein Visum zu besorgen. Die Liebenthals gingen 1946 mit den Universitäten zurück nach Peking. Vorher gelang es Walter Liebenthal und seinen chinesischen Kollegen, neu entdeckte Sanskrit-Inschriften aus Tempeln der Provinz zu entziffern und hier den frühen Einfluss des Buddhismus nachzuweisen – für die Buddhismus-Forscher eine kleine Sensation. 1952 verließen auch die Liebenthals China. Erich Michelsen starb 1948 in Kunming an einem Krebsleiden, Katharina Michelsen kehrte 1949 als einzige der Berliner Flüchtlinge in ihre Heimatstadt zurück, ihr Mann wurde posthum rehabilitiert. Sie alle haben den Holocaust überlebt, dank chinesischer Freunde und Kollegen und inmitten einer Gesellschaft, die selbst um ihr Überleben kämpfte.

Ein führender Experte für chinesischen Buddhismus

Walter Liebenthal wurde einer der führenden Experten für chinesischen Buddhismus. Sein Sohn Walter, der nie nach China zurückkehren konnte, beschäftigte sich zeitlebens mit chinesischen Volkserzählungen: 2017 erschien posthum ein Band dieser Erzählungen in China. Michael Nothmann hatte die Möglichkeit, Kunming noch einmal wiederzusehen. Als er 2011 auf dem Platz des Dorfes, in dem er gelebt hatte, aus dem Wagen ausstieg, kamen zwei alte Männer auf ihn zu und sagten: „Du hast anscheinend noch immer Probleme mit deinem Fuß!“ Michael Nothmann zog seit seiner Kindheit ein Bein nach. Für Katharina und Erich Michelsen gibt es aktuell Überlegungen, Stolpersteine verlegen zu lassen.

Die Autorin ist Professorin em. für Sinologie an der Freien Universität Berlin. Der Beitrag stützt sich auf ihren Aufsatz über Erich Michelsen (Berliner China-Hefte 50, 2018), auf die gemeinsam mit Roberto Liebenthal verfasste Monografie „Ein Leben im Exil: Walter Liebenthal“ (erscheint 2019) sowie auf Michael Nothmanns unveröffentlichte Erinnerungen „My Story“.

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