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Wissen - 15.06.2019

Was man von Adolph Knigge heute noch lernen kann

Knigge gilt als Etikette-Guru, doch er wurde gründlich missverstanden. Jetzt wird er neu entdeckt – und mit ihm die Frage, wie Menschen gut miteinander umgehen.

Ein Freiherr als Aufklärer: Adolph Knigge.

Die Lange Nacht der Wissenschaften steht an diesem Samstag in Berlin an, das öffentliche Schaulaufen für aufregende, neue Forschung – und an der Freien Universität (FU) gräbt man ausgerechnet Adolph Knigge (1752–1796) aus. Warum das?

„Das Thema ist brandheiß“, erklärt Katja Heinrich, bis vor Kurzem Geschäftsführerin des Dahlem Humanities Center und nun des FU-Exzellenzclusters Temporal Communities, eine der Initiatorinnen des Knigge-Themenschwerpunkts. In Zeiten von Hate Speech sei die Frage, wie Menschen miteinander umgehen, von großer gesellschaftlicher Relevanz. Nicht nur im Internet, sondern auch im Alltag und am Arbeitsplatz. „Wir haben uns gefragt, was uns ein über 200 Jahre alter Text dazu noch sagen kann.“

Knigges Abhandlung „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788 dreht sich um nichts anderes als gelingende beziehungsweise misslingende zwischenmenschliche Kommunikation. Kann das Buch tatsächlich für heute Hilfestellungen bieten?

„Niemand würde die FU spontan mit Knigge assoziieren“

Dieser Frage will die Projektgruppe, zu der federführend auch Romanistik-Professorin Anita Traninger gehört, in den kommenden Monaten auf den Grund gehen – und zwar so öffentlichkeitswirksam wie möglich. Angefangen hat alles mit einem Video, mit dem sich das Dahlem Humanities Center bei der Aktion „Eine Uni, ein Buch“ beworben hatte.

Der Wettbewerb wird seit 2017 jährlich vom Stifterverband und der Klaus Tschira Stiftung ausgeschrieben. Die zehn prämierten Hochschulen erhalten jeweils 10 000 Euro für Ausstellungen, Veranstaltungen oder Vorlesungsreihen. Der Gedanke dahinter: Durch die gemeinsame Lektüre eines bestimmten Titels über die Grenzen der Disziplinen hinweg soll der Austausch zwischen Hochschulmitgliedern und -mitarbeitern gestärkt werden.

Dass das FU-Team den bekannten Benimm-Autor des 18. Jahrhunderts vorschlug – so viel Selbstironie hat die Jury offenbar überzeugt. „Niemand würde die Freie Universität spontan mit Knigge assoziieren“, sagt Anita Traninger. Eher steht die FU im Ruf, eine streitbare Institution zu sein, geprägt vom widerspenstigen Geist der 1968er. Auch Berlin ist nicht gerade bekannt für seine ausgesuchte Höflichkeit.

Nach seinem Tod wurde das Buch um immer neue Benimmregeln ergänzt

Vor diesem Hintergrund wollten sich die Wissenschaftler mit frischem, unverstelltem Blick Adolph Franz Friedrich Ludwig von Knigge zuwenden. Der Freiherr aus einem verarmten niedersächsischen Adelsgeschlecht ist vermutlich einer der missverstandensten Autoren der Welt – und schon deshalb spannend für die Literaturwissenschaft. Zwar schrieb er weit mehr als nur „Über den Umgang mit Menschen“.

Doch während seine anderen Schriften vergessen sind, begründete das schon zu Lebzeiten erfolgreiche Buch, das nach seinem Tod vom Verlag um immer neue Benimm- und Kleiderregeln ergänzt wurde, seinen unverwüstlichen Ruf als Etikette-Guru.

Knigges Namen kennt bis heute jeder, den Originaltext fast niemand. Dabei ist der hochinteressant: Wer bin ich und wer sind meine Mitmenschen? Wie verhalte ich mich zu mir selbst und zu anderen? So lassen sich die Leitmotive des umfangreichen Buchs zusammenfassen.

Es gehe, schreibt Knigge auf den ersten Seiten, um die Kunst, „sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu seyn; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigenthümlichkeit des Characters zu verliehren, noch sich zu niedriger Schmeicheley herabzulassen“. Der überzeugte Aufklärer plädiert für Selbstbestimmung und Freiheit, widmet sich aber in keiner Zeile der Anordnung von Weingläsern oder der Faltung des Einstecktüchleins.

Oberflächliche Formen der Etikette interessierten Knigge nicht

Oberflächliche Formen der Etikette hätten Knigge überhaupt nicht interessiert, erläutert Katja Heinrich. Sein Augenmerk lag auf der „Herausbildung der Urteilskraft und der Gestaltung des eigenen Lebens“. Was das mit korrekten Umgangsformen zu tun hat? „Knigge geht davon aus, dass Menschen sich dann richtig verhalten, wenn sie sich die Grundsätze ihres Handelns gut überlegt haben“, sagt Anita Traninger. Eine reflektierte persönliche Ethik führt im nächsten Schritt zu Handlungsmaximen, „die einen gut durchs Leben leiten“. Sich verstellen, durchschummeln, das Gegenüber manipulieren – das sei nicht Knigges Anliegen gewesen.

Einfach zu lesen ist das Buch für ein heutiges Publikum nicht. Um den Original-Knigge der Öffentlichkeit dennoch näherzubringen, wollen die Wissenschaftler digitale Mittel und Wege nutzen. Sie haben Textausschnitte ausgesucht, die unter dem Hashtag #kniggegehtum über soziale Medien verbreitet werden und dort eine Debatte anstoßen sollen. „Wir hoffen, dass möglichst viele Menschen Stellung beziehen und ihre Perspektive einbringen“, sagt Katja Heinrich. Bei der Langen Nacht der Wissenschaften wird außerdem ganz klassisch vorgelesen: Studierende, Verwaltungsmitarbeiter, Wissenschaftlerinnen, sogar FU-Präsident Günter Ziegler – sie alle stellen live ihre Knigge-Lieblingspassagen vor.

Eine kritische Nabelschau an der FU

Dabei kommt die kritische Nabelschau nicht zu kurz: Wie geht man eigentlich an der FU miteinander um? Eine Universität ist ein riesiger Apparat. Man vergesse oft, dass es dort nicht nur Studierende und wissenschaftliches Personal gebe, sagt Heinrich, „sondern dass viele weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Mikrokosmos am Laufen halten“. Ob die Kommunikation immer ausreichend respektvoll ist oder ob es Verbesserungsbedarf gibt – das wollte das Knigge-Team genauer wissen. Für einen Film, der ebenfalls bei der Langen Nacht gezeigt wird, wurden auf dem Campus zahlreiche Interviews geführt.

Im Herbst beginnt dann eine öffentliche Ringvorlesung, zu der unter anderem die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und Knigge-Kenner und -Herausgeber Karl-Heinz Göttert eingeladen sind. Geplant sind philologische, anthropologische und philosophische Annäherungen an das Thema Höflichkeit und Umgangsformen. Auch am 15. Juni gibt die Universität schon eine wissenschaftliche Kostprobe: Mehrere FU-Forschungsverbünde stellen laufende Projekte vor – beispielsweise Untersuchungen zu Gewalt in der Sprache oder zu Höflichkeit nach der konfuzianischen Lehre. All das lasse sich hervorragend mit Knigge verknüpfen, findet Anita Traninger. „Und hoffentlich werden die Besucher dadurch animiert, mal in das gelbe Reclamheft reinzuschmökern.“

Einige spöttische Beobachtungen sind zeitlos

Einige von Adolph Knigges spöttischen Beobachtungen sind in der Tat zeitlos. Dazu zählt die Beschreibung eines typischen Gelehrten: „Ein Professor (…) meint in seiner gelehrten Einfalt, die Universität, auf welcher er lebt, sey der Mittelpunct aller Wichtigkeit, und das Fach, in welchem er sich Kenntnisse erworben, die einzige dem Menschen nützliche, wahrer Anstrengung allein werthe Wissenschaft. Einer Dame, die bey ihrer Durchreise den berümten Mann kennen zu lernen wünscht, und ihn desfalls besucht, schenkt er seine neue, in lateinischer Sprache geschriebene Dissertation, wovon sie nicht Ein Wort versteht.“

Es sei offensichtlich, dass das Buch für Männer geschrieben wurde, sagt Katja Heinrich. Als Feminist geht der Autor der Aufklärung beim besten Willen nicht durch. „Es bleibt ein historischer Text, ein Dokument, das man nicht losgelöst von seiner Entstehungszeit betrachten kann“, sagt Traninger. Die Aktualität der ethischen Grundidee schmälert das nicht, finden die Wissenschaftlerinnen. Die könnte weiterhin Impulse für die aktuelle gesellschaftliche Debatte liefern. Katja Heinrich kann sich sogar vorstellen, dass im Anschluss an das Knigge-Jahr an der FU etwas Neues entsteht – „kein Regelwerk für Universitäten, aber vielleicht eine Charta des guten Umgangs“.

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