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Wissen - 03.12.2018

Wie der FU-Gründungsrektor 1945 die NS-Zeit analysierte

FU-Gründungsrektor Friedrich Meinecke war 1945 der erste deutsche Historiker, der die Ursachen für die NS-Zeit analysierte. Jetzt kommt sein Buch neu heraus.

Friedrich Meinecke (links) 1951 vor dem nach ihm benannten Historischen Institut der FU.

Seine Schrift „Die deutsche Katastrophe“ hatte Friedrich Meinecke schon Ende 1945 abgeschlossen. Meinecke, einer der renommiertesten seiner Zunft, versuchte damit als erster deutscher Historiker zu analysieren, wie es überhaupt zum Nationalsozialismus kommen konnte. Er diagnostiziert die „weit zurückreichende saeculare Entartung des deutschen Bürgertums und des deutschen Nationalgedankens“ und versucht der Öffentlichkeit eine Orientierung in der wiedergefundenen Freiheit zu bieten.

An ihrem 70. Geburtstag, der in dieser Woche gefeiert wird, erinnert sich die Freie Universität Berlin an Meinecke, der 1948 ihr Gründungsrektor wurde. Zu diesem Anlass förderte die „Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde der FU“ eine Neuausgabe der „Deutschen Katastrophe“. Das Hauptmotiv für sein Werk beschreibt Meinecke in einem Brief an Eduard Spranger: „Daß Sie dem Begriff Demokratie darin in einem Tagesspiegel-Artikel vom 9.10.1945] einen tieferen, humanen Sinn zu geben versuchen, habe ich besonders begrüßt. Man müßte das überhaupt jetzt aufgreifen und populär wirksam machen, um unseren Übergang zur Demokratie vor uns selber tiefer zu begründen und zu rechtfertigen.“

Langwierige Kommunikation mit den Entnazifizierungsbehörden

Trotz der schwierigen Verhältnisse für die Verlage, langwieriger Kommunikation mit Entnazifizierungsbehörden und Zensoren erschien das Buch im August 1946. Diese Erstausgabe ist begehrt, weil sich in Meineckes zehnbändiger Werkausgabe nur die zweite Ausgabe befindet. Die jetzt von mir in der „Edition Andreae“ des Berliner Lexxion Verlags vorgelegte Edition (528 Seiten) geht deshalb auf die erste Ausgabe zurück, verzeichnet erstmals Änderungen, bietet Verständnishilfen und Kommentare. An die Edition schließt sich eine umfangreiche Dokumentation der weltweiten Wirkung von Meineckes Buch bis in unsere Tage an.

Für Meineckes Zeitgenossen war es selbstverständlich, dass der Autor mit „Katastrophe“ die Regierungsübergabe an die Hitler-Papen-Hugenberg-Koalition am 30. Januar 1933 meinte – und nicht die Kapitulation. Die letzten Jahre der Weimarer Republik sind aufschlussreich für die Beantwortung der Fragen, wie stark sich Meinecke für den Erhalt der freiheitlich-rechtsstaatlichen-parlamentarischen Demokratie einsetzte und weshalb er sich einigen Widerstandskreisen in Berlin unentdeckt nähern konnte.

Meinecke schrieb gegen die Präsidialkabinette an

In den Jahren der Präsidialkabinette der Reichskanzler Brüning, von Papen und Schleicher hatte Meinecke bereits gegen deren legal maskierte Diktatur geschrieben und gegen die „Hitler-Bewegung“: „Das deutsche Bürgertum kann sich nur retten, wenn es den einzigen brauchbaren Gedanken von Rechts- und Linksradikalismus, den der starken und konzentrierten Regierungsgewalt, aus ihrem Hexenkessel herausholt und auf einer demokratischen Basis – und das heißt jetzt auch in unbefangener Kampfgemeinschaft mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft – zu verwirklichen hilft“.

Und direkt vor den Reichstagswahlen am 5. März 1933 hatte er, „so lange das Köpferollen noch nicht begonnen hat“, noch einmal öffentlich vor einer Diktatur gewarnt: „Die Wahlen vom 5. März müssen so ausfallen, daß der Wille zur Abwehr einer faschistischen Diktatur nicht nur von der Arbeiterschaft, sondern auch vom Bürgertum so kräftig ausgeübt wird, daß an eine auch nur scheinlegale Beseitigung unserer Verfassungsgrundlagen und inneren Freiheit nicht gedacht werden kann.“ Das NS-Regime vertrieb ihn binnen Jahresfrist aus allen Ämtern.

Der tiefe Antisemitismus der deutschen Gesellschaft

In der „Deutschen Katastrophe“ beschreibt Meinecke, wie tief die deutsche Gesellschaft von antijüdischen und antisemitischen Vorstellungen durchdrungen war und in welchem Maß die NSDAP darauf zurückgreifen konnte: „Aber elementare Leidenschaft steckte auch in seinem Rassedogma, das er sich in der überhitzten Luft des österreichischen Antisemitismus gebildet hatte. Sein Judenhaß war ebenso ehrlich und monomanisch wie bestialisch. Dem Juden gegenüber, wie er ihn im Osten kennenlernte, hat er sich anfänglich vielleicht zuerst ganz freigemacht von den überlieferten moralischen Schranken und begonnen, amoralisch zu denken.“

Büste von Friedrich Meinecke in der FU.

Wenn Meinecke der bürgerlichen Elite in der Weimarer Republik Versäumnisse und während der NS-Diktatur ihre hohe Anpassungsbereitschaft vorwirft, dann bezieht er sich selbst mit in den Kreis derjenigen ein, die sich nicht entschieden genug gegen die Entwicklung in die Unfreiheit positioniert haben. Er will auch diejenigen erreichen, die dem Regime bis zum Ende treu geblieben sind. Dazu sei es nötig, dass „das allgemeine, das herkömmliche Geschichtsbild, mit dem wir groß geworden sind, jetzt allerdings einer gründlichen Revision unterzogen wird,] um die Werte und Unwerte unserer Geschichte klar voneinander unterscheiden zu können“. Gleichzeitig warnt er davor, den „radikalen Bruch mit unserer militaristischen Vergangenheit, den wir jetzt auf uns nehmen müssen“, zu überspannen, denn es sei notwendig, eine Antwort auf die Frage zu finden, „was aus unseren geschichtlichen Traditionen überhaupt nun werden“ soll. „Unmöglich und selbstmörderisch wäre es, sie in Bausch und Bogen ins Feuer zu werfen und uns als Renegaten zu gebärden.“ Aber ein „radikaler Bruch mit unserer militaristischen Vergangenheit“ sei nötig.

Meinecke schlug „Goethegemeinden“ vor

Meineckes Werben für die Ideale der Klassik, die Werte der Aufklärung und für ein christlich geprägtes, soziales und humanes Handeln mündet in den Vorschlag, in sich selbst organisierenden „Goethegemeinden“ Ansätze zu einem verantwortungsbewussten Leben zu entwickeln. „Die Zahl der urteilslosen, aber von Hause aus harmlosen und anständigen, ja sogar idealistisch sein wollenden Mitläufer des Nationalsozialismus war ungeheuer groß. Nicht nur strenge Gerechtigkeit, sondern auch menschliches Verstehen muß hier geübt werden.“ Er trägt auch diese Angebote ohne den Gestus des Allwissenden vor.

Während des Kalten Krieges urteilten marxistisch-leninistische Historiker zumeist negativ und unisono über Meineckes Werk. In der DDR hieß es über den „Stammvater der NATO-Historiker“: „Nach 1945 zeigte sich die große Gefährlichkeit seiner Geschichtsideologie, weil sie wiederum in entscheidungsvoller Stunde nicht geringe Teile des liberalen und demokratischen Bürgertums und Kleinbürgertums desorientierte und durch ideologische Beeinflussung wesentlich mithalf, den deutschen Imperialismus im Westen Deutschlands erneut zur Macht kommen zu lassen. Selbst bei der mitunter in drastischen Worten erfolgenden ,Verurteilung’ des Militarismus und des Preußentums ging es lediglich darum, nicht mehr Haltbares preiszugeben.“

Selbst in China wurde „Die deutsche Katastrophe“ rezipiert

In der UdSSR und in Polen blieb „Die deutsche Katastrophe“ zwar unübersetzt, doch erschienen etliche Kommentare, manche ähnlich formuliert, manche etwas moderater. Selbst in China wurde in den achtziger Jahren eine Übersetzung vorbereitet – wegen des Massakers auf dem Tiananmen-Platz erschien sie allerdings erst 1991.

Im Westen und in Japan zeichnen Einführungen in das Buch ein differenziertes Bild. Die schwedische und dänische Ausgabe feiern Meinecke als „Altmeister“ unter den deutschen Historikern. Der spanische Übersetzer, den das NS-Regime ins Exil vertrieben hatte, schließt mit der Hoffnung, „dass an anderen Orten der Welt andere ehrliche Männer von ähnlicher Strenge, wie Meinecke sie aufbringt, es ihm gleichtäten und sich der Verantwortung ihrer jeweiligen Länder im Hinblick auf diese grauenvolle Katastrophe stellen“. Der japanische Verleger stellt Meinecke mit ähnlichen Worten vor wie seine amerikanischen und italienischen Kollegen: Der Autor wolle versöhnen und erreichen, dass an die Stelle der „Megalomanie der Nazis“ nicht ein abstraktes Weltbürgertum trete und sich „der möglichst individuelle deutsche Geist frei entfalte“.

Als 86-Jähriger wurde Meinecke Gründungsrektor der FU

Eine der frühen französischen Besprechungen betont, Meinecke habe besser als viele andere Deutsche zum Ausdruck gebracht, welch großen Schaden die Hyperindustrialisierung in Deutschland angerichtet habe. Hier liege die Verbindung zum totalen Militarismus. Der Rezensent schließt mit der Feststellung, er freue sich, in Meinecke „einen der Deutschen zu erkennen, mit dem man eine erschöpfende Erklärung unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den beiden Völkern und im Hinblick auf die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen ihren unterschiedlichen Auffassungen vom Menschen und vom Leben finden“ könne.

„Wie wird es gelingen, den deutschen Geist zu retten?“, hatte sich Meinecke 1946 gefragt und seine Antwort aus der Erfahrung eines langen Lebens und Forschens am Schluss seiner Schrift mit einer gewissen Skepsis formuliert: „Geschichtliche Beispiele des Gelingens oder Mißlingens helfen uns da nicht allzuviel.“ Aber dann hat er noch hinzugefügt: „Die Aufgabe ist jedesmal doch wieder neu und individuell.“ Zwei Jahre später stellte sich der 86-jährige Emeritus noch einmal einer neuen Herausforderung, dem Gründungsrektorat der Freien Universität.

Im Grußwort zum Neudruck der „Deutschen Katastrophe“ nimmt der amtierende Präsident, Günter M. Ziegler, Worte Meineckes aus seiner vor 70 Jahren gehaltenen Festrede wieder auf: „Welch denkwürdiger Augenblick, eine neue Universität unmittelbar erwachsend aus dem stürmischen Verlangen einer schwer geprüften Jugend. Und ich als ihr Ältester der Lehrerschaft schlage mit tiefer Überzeugung in die mir dargestreckte Hand der Jugend.“

Der Autor ist Universitätsprofessor a.D., Leiter der Forschungsstelle für Kommunikationsgeschichte der FU und Vorsitzender der Friedrich-Meinecke-Gesellschaft. Die Neuedition wird am Dienstag um 11 Uhr 30 feierlich öffentlich vorgestellt: Koserstraße 20, Hörsaal B.

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