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Wissen - 19.11.2018

Zeitbombe im Kopf

Gefäßausbuchtungen im Gehirn können lebensbedrohlich sein. Vorbeugende OPs sind riskant. Beobachtung ist meist sinnvoller.

Flickwerk. Aneurysmen werden mit Röhrchen verschlossen oder abgeklemmt.

Ständig wiederkehrende Kopfschmerzen führten die 60-Jährige zuerst zu ihrer Hausärztin, schließlich zu einem Neurologen. Der fand zwar nach etlichen Untersuchungen, inklusive Magnetresonanztomographie (MRT), keinen erkennbaren Grund für das Kopfweh. Allerdings zeigten die MRT-Bilder im Gefäßkranz an der Basis des Gehirns ein Aneurysma. Beschwerden verursachen solche Blutgefäß-Ausbuchtungen nicht und ohne MRT hätte die kopfschmerzgeplagte Dame wahrscheinlich nie davon erfahren.

Clipping und Coiling

Doch es kann auch anders kommen: In einigen Fällen kann das ausgebeulte Gefäß platzen – mit dramatischen Folgen. Eine starke Blutung in den Bereich unterhalb der Spinngewebshaut des Gehirns kann als seltene Form des Schlaganfalls betrachtet werden. Sie führt bei vier von zehn Betroffenen zum Tod. „Die meisten Überlebenden bleiben körperlich und kognitiv beeinträchtigt“, sagt Helmuth Steinmetz, Direktor des Zentrums für Neurologie und Neurochirurgie am Klinikum der Universität Frankfurt am Main.

Um das Risiko zu minimieren, werden die Patienten nach einem solchen dramatischen Blutungsereignis heute nach raffinierten Konzepten auf Intensivstationen behandelt. Die undichte Stelle in den Blutgefäßen, die die gefährliche Situation hervorgerufen hat, wird zudem in einer neurochirurgischen Operation abgeklemmt („Clipping“) oder das Leck wird vom Neuroradiologen mittels eines dünnen Röhrchens geschlossen, das über einen Katheter vorgeschoben wird („Coiling“).

Wer anlässlich eines MRTs zufällig von einer solchen potenziellen „Zeitbombe“ im eigenen Kopf erfährt, wird verständlicherweise unruhig werden und sich fragen: Wie groß ist das Risiko, dass das Hirnaneurysma platzt? Und sollte ich dem nicht vorbeugen, indem ich es vorbeugend „coilen“ oder „clippen“ lasse?

Das Risiko, dass ein Aneurysma innerhalb von fünf Jahren platzt, liegt je nach eigenem Risikoprofil zwischen einem halben und 18 Prozent. Das ergab eine Analyse von sechs Studien, für die die Geschicke von mehr als 8000 Personen nach der Diagnose eines Hirnaneurysmas über fünf Jahre weiterverfolgt wurden und die 2014 im Fachmagazin „Lancet Neurology“ erschien.

„Watchful Waiting“

Ob das eigene Risiko größer oder geringer ist, kann anhand einer Reihe von Faktoren recht gut abgeschätzt werden, sagte Steinmetz kürzlich bei einer Veranstaltung der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft. Daten aus Langzeitbeobachtungen Betroffener gehen in die Berechnung dieser individuellen Faktoren ein, „dazu zählen Größe, Lage und Form des Aneurysmas, aber auch das Lebensalter des Patienten“, so Steinmetz.

Das bedeutet auch: Wenn sich bei einem MRT als Zufallsbefund kleinere Gefäßausbuchtungen im Gehirn von Älteren zeigen, sollte nicht gleich eingegriffen werden. Ein beobachtendes Abwarten („Watchful Waiting“ im Fachjargon), wie es auch für viele andere Diagnosen – etwa bei bestimmten Tumoren – als Alternative zur schnellen OP inzwischen zunehmend empfohlen wird, ist oft sinnvoller. Denn fest steht: Auch der Eingriff – ob nun chirurgisch oder neuroradiologisch – ist nicht ohne Risiko. Studien zufolge erleiden sechs Prozent der Behandelten bleibende Schäden, bis hin zum Tod. Wohl gemerkt: Dieses Risiko besteht für Menschen, die sich zuvor gesund fühlten und keine Blutung erlitten hatten.

Auf den Eingriff zu verzichten heißt aber nicht, dass man nichts tun kann: Auf jeden Fall lohnt es sich, mit dem Rauchen aufzuhören und auf den Blutdruck zu achten. Hoher Blutdruck zählt zu den Faktoren, die das Risiko für das Platzen des Gefäßes erhöhen. Wie gut es bei der Vorbeugung der gefürchteten Blutungen hilft, den Blutdruck mit Medikamenten zu senken, ist derzeit Gegenstand der interdisziplinären deutsch-holländischen Studie „Protect-U“, deren deutscher Teil von der Neurochirurgie des Uniklinikums Mannheim koordiniert wird und für die noch Studienteilnehmer gesucht werden.

Das Ding im Kopf

Steinmetz plädiert dafür, den individuellen Risikovergleich zwischen Eingreifen und Abwarten in „neurovaskulären Zentren“ vornehmen zu lassen, in denen Neurologen, Neurochirurgen und Neuroradiologen zusammenarbeiten. Der Austausch der Experten untereinander und mit den Betroffenen ist nicht an einem Termin zu erledigen: Meist wird das Hirnaneurysma mit weiteren MRTs kontrolliert. Wächst es im Lauf der Zeit, bedeutet dies ein höheres Risiko. „Dann wird die Entscheidung meist zugunsten einer verschließenden Therapie geändert“, sagt Steinmetz.

Die 60-jährige Patientin, bei der auf der Suche nach den Ursachen ihrer Kopfschmerzen ganz zufällig im MRT eine Gefäßausbuchtung gefunden wurde, wird nun dem Rat des Mediziner-Teams folgen und ihr kleines Hirnaneurysma nicht sofort behandeln lassen. Stattdessen soll mit weiteren Untersuchungen abgeklärt werden, ob es im Lauf der Jahre wächst.

Das gibt ihr Sicherheit. Von jenem „Ding“ in ihrem Kopf zu wissen empfindet sie jedoch auch als Belastung. Sie hat sich informiert und weiß nun auch, dass auch kleine Hirnaneurysmen Subarachnoidalblutungen zur Folge haben können. Sie sind sogar in der Mehrheit der Fälle Ursache dieser Blutungen – einfach, weil kleine Gefäßausbuchtungen weit häufiger sind als große. Es bleibt also eine Rest-Unsicherheit. Nach der Diagnose eines Hirnaneurysmas gilt gleichsam die Umkehr einer alten Weisheit: „Was ich weiß, macht mich heiß.“

Zufallsdiagnosen mit – wenn auch nur mentalen – Folgen

Es ist deshalb wichtig, sich vor einer bildgebenden Untersuchung des Kopfes klarzumachen, das sich hier auch Auffälligkeiten finden können, nach denen eigentlich gar nicht gesucht wurde. Diese Befunde können zunächst keine Behandlung erfordern, aber beunruhigend sein. Drei von einhundert Erwachsenen haben ein Hirnaneurysma. Bei jedem 33. MRT müsste folglich eines entdeckt werden. „Wir sollten MRTs nur einsetzen, wenn es eine gezielte Fragestellung gibt“, folgert der Neurologe Steinmetz.

Informationen zur Protect-U-Studie: www.protectu-trial.com, nima.etminan@umm.de

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