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Wirtschaft - 15.07.2019

So schnell ändern sich die Zeiten

2017 sollte das Siemens-Werk in Görlitz geschlossen werden. Jetzt wird es zu einem Wasserstoff-Kompetenzzentrum.

Der Protest hat gewirkt, das Siemens-Werk in Görlitz bleibt bestehen.

Wahlkampfshow oder Zukunftsinvestition? Auf diese Frage werden die Görlitzer an diesem Montagnachmittag eine Antwort bekommen. In Halle 4 des Siemens- Werks unterzeichnen um 14.30 Uhr Siemens-Chef Joe Kaeser und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) eine Vereinbarung über die Entwicklung des Standorts zu einem Wasserstoff-Kompetenzzentrum. Ein Stündchen später fliegt die Bundeskanzlerin ein, und Angela Merkel wird dann mit Kaeser und Kretschmer durch das Werk spazieren und Görlitz als einen Industriestandort mit Zukunft betonen. So schnell ändern sich die Zeiten.

Kretschmer besuchte Kaeser

Im November 2017 hatte der Siemens-Vorstand unter Kaeser die Schließung des Werks beschlossen, weil es keinen lukrativen Markt mehr für die in Görlitz produzierten industriellen Dampfturbinen gebe. Ausgerechnet in Görlitz, wo mit Bombardier auch der größte industrielle Arbeitgeber schwächelt, wollte der Weltkonzern rund 700 Arbeitsplätze dem Weltmarkt opfern. Der Protest war groß und entfaltete sich von Ostsachsen über Dresden und Berlin bis nach München in die Siemens-Zentrale. Kaeser reagierte. Der Vorstandsvorsitzende besuchte das Werk in Görlitz und gab sich beeindruckt vom Engagement der Belegschaft. Kretschmer wiederum besuchte Kaeser in München und man erörterte vor anderthalb Jahren „die Möglichkeit eines Zukunftsfonds, mit dessen Hilfe die digitale Transformation gestaltet werden kann“. Auch in Sachsen.


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1907 wurden erstmals Dampfmaschinen in Görlitz gebaut. Heute entstehen dort Maßanfertigungen für Solar- oder Biomassekraftwerke und für Industriebetriebe, die für ihre Prozesse Dampf brauchen oder erzeugen. „Wir sind sehr gut ausgelastet“, sagt Betriebsratschef Ronny Zieschank. Die gut 700 Leute starke Belegschaft fährt Überstunden. Kaesers Plan, das Werk zu schließen, hat er nie verstanden. „Wir sind auf Zukunftsmärkten tätig“, sagt der Betriebsrat. Allerdings mit schwankender Intensität.

Die vierte Restrukturierung

1989 arbeiteten rund 2000 Personen in der Görlitzer Fabrik, dann ging es runter auf 600, anschließend wieder hoch auf 1200 und nun wieder Richtung 600. „Ich erlebe gerade die vierte Restrukturierung“, sagt Zieschank. Er freut sich auf den hohen Besuch am Montagnachmittag, denn nur mit Versprechungen würden die Politiker und der Siemensboss wohl nicht in die Stadt kommen. Wasserstoff ist derzeit in aller Munde. Vor zehn Tagen hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in Berlin eine Vereinbarung mit der Bundesregierung unterschrieben zur Förderung einer Forschungsfabrik für Brennstoffzellen und Wasserstoff. Lkw, Busse und Bahnen könnten schon bald mit sauberem Wasserstoff angetrieben werden. Aufgrund des Potentials für die Energiewende stimmen die Wirtschafts- und Verkehrsminister im Norden derzeit eine „Norddeutsche Wasserstoff-Strategie“ ab. Der auf See von Windrädern produzierte Strom könnte in Wasserstoff umgewandelt werden. Das wäre hilfreich, denn die Hochspannungsleitungen, um den Strom vom Norden in die Industriezentren im Süden zu liefern, gibt es in absehbarer Zeit nicht. Auch Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach setzt deshalb auf Wasserstoff und stellt dazu Anfang August seine Strategie vor.

Einen Schnaps auf den Sieg der CDU

Der Wahlkämpfer Kretschmer ist schneller. Am 1. September wird in Sachsen und Brandenburg gewählt. In ganzen Regionen ist die Politikverdrossenheit groß, und in Görlitz hat vor vier Wochen der CDU-Kandidat nur knapp die Oberbürgermeisterwahl gegen den AfD-Mann gewonnen. Er habe das erste Mal einen Schnaps auf den Sieg eines CDU-Kandidaten getrunken, erzählt Sven Otto, der IG-Metall-Chef von Ostsachsen. Aktuell müsse er „keine Angriffe abwehren“, auch das Bombardier-Werk sei erst mal sicher, brauche aber mittelfristig von der Bahn mehr Aufträge. Und beim Sandalenhersteller Birkenstock, mit rund 2000 Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber in der Region, gibt es nun endlich – gegen den Widerstand des Unternehmens und der örtlichen Politik – einen Betriebsrat. „Die Leute hier sind seit 30 Jahren im Strukturwandel“, sagt Otto. Und erwarteten nicht mehr viel von der Politik. Vielleicht werden sie an diesem Montag eines Besseren belehrt.

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