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Wirtschaft - 28.01.2019

„Unsere Ärzte sind von der Arbeitszeit her am Limit“

Im Interview fordert KBV-Chef Andreas Gassen mehr Geld für Sprechstunden am Abend und erklärt, wie er für kürzere Wartezeiten sorgen will.

Andreas Gassen ist seit März 2014 Vorsitzender des Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Herr Gassen, wann waren Sie das letzte Mal auf dem Golfplatz?

Mir ist der Reiz dieses für viele offenbar interessanten Spiels bisher verschlossen geblieben. Ich spiele nicht Golf und weiß nicht, ob ich es jemals tun werde, weil der Zeitaufwand dafür erheblich ist.

Luxusleben und gepflegtes Freizeitvergnügen ist den Göttern in Weiß wichtiger als gute Patientenversorgung: Woran liegt es, dass in Politik und Öffentlichkeit immer noch ein solches Ärztebild herumgeistert?

Ich glaube nicht, dass dieses Bild besteht. Jeder weiß doch, dass es nicht der Wirklichkeit entspricht. Ärzte vergnügen sich Mittwoch nachmittags nicht auf dem Golfplatz, wie es der SPD-Politiker Karl Lauterbach unterstellt. Sie sind in ihren Praxen oder bei Hausbesuchen. Mit dem armseligen Versuch, eine neidgetriggerte Debatte anzustoßen, wird von der Realität abgelenkt. Unsere Ärzte sind von der Arbeitszeit her am Limit. Die meisten nehmen das hin, weil sie ihren Beruf lieben und Verantwortung gegenüber ihren Patienten spüren – trotz eines begrenzten Budgets, das überall drückt. Mit Blick darauf ist der Vorwurf respektlos und unverschämt.


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Die Polemik basiert auf realem Ärger. Viele Patienten verstehen nicht, warum so viele Arztpraxen frühabends und schon am Freitag nachmittag geschlossen haben, von Samstags-Sprechstunden gar nicht zu reden. Können Sie es erklären?

Der ärztliche Arbeitstag ist endlich. Die Arbeitszeit der Mediziner beträgt im Schnitt 51 bis 53 Wochenstunden. Das ist viel mehr, als der durchschnittliche Arbeitnehmer leistet. Und machen wir uns nichts vor: Ein großer Teil der niedergelassenen Ärzte befindet sich in einem Alter, in dem vielleicht oft auch nicht mehr geht.

Es geht nicht um Mehrarbeit, sondern um bessere Verteilung. Warum gibt es so wenige Ärzte, die an einem Wochentag schließen und samstags Sprechstunden für Berufstätige anbieten?

Der Hauptandrang ist nun mal in den Kernzeiten vormittags und nachmittags. In meiner eigenen Praxis haben wir uns etwa gewundert, dass die Rentner immer erst ab neun Uhr Termine haben wollten – bis wir drauf kamen, dass das Seniorenticket für den öffentlichen Nahverkehr ab neun Uhr beginnt. Wir brauchen den Spagat zwischen einer Versorgung, die den Mehrheitswunsch bedient und möglichen On-Top-Angeboten, die dann aber besser vergütet werden müssen. Wenn man mehr Geld ausgeben will für Sprechstunden zur Unzeit, werden sich Kollegen finden, die das anbieten. Ich warne aber vor übersteigerter Anspruchshaltung. Die Ämter haben samstags auch geschlossen. Überlange Öffnungszeiten gibt es nur dort, wo der Kunde dafür bezahlt.

Die Rettungsstellen der Krankenhäuser quellen über. Dass es ärztlichen Bereitschaftsdienst für weniger dringlichen Fälle gibt, wissen viele gar nicht mehr. Ein Versäumnis Ihrerseits?

Möglicherweise haben wir nicht in der nötigen Intensität auf unser Angebot hingewiesen. Und wir haben lang gebraucht, um uns auf eine bundesweit einheitliche Nummer zu verständigen. Früher gab es ja Blättchen für den Briefkasten, wo die Bereitschaftsdienste drinstanden. Inzwischen machen sich viele nicht mehr die Mühe, danach zu suchen. Die gehen einfach in die nächste Rettungsstelle. Da sitzen dann die falschen Patienten, und alles ist proppenvoll. Es ist ein Gebot der Stunde, dieses Problem anzugehen.

Der Gesundheitsminister will zusammengelegte Notrufnummern und zentrale Anlaufstellen zur Sortierung nach Dringlichkeit. Einverstanden?

Das sind sinnvolle Regelungen. Man muss sich dann nur noch drei Nummern merken. Wenn der Einbrecher im Haus ist, die 110. Wenn’s brennt oder bei schweren Unfällen die 112. Und bei medizinischem Behandlungsbedarf die 116117. Alles rund um die Uhr. Ich bin mir sicher, dass das akzeptiert wird, wenn es verlässlich ist. Wir müssen die Rettungsleitstellen und Klinikambulanzen entlasten für die Fälle, die da wirklich hin gehören. Und weil wir an allen Ecken und Enden des Gesundheitswesens knapp sind, geht das nur gemeinsam.

Von einem anderen Vorhaben sind Sie weniger begeistert. Jens Spahn will, dass sich die Ärzte mehr Sprechstundenzeit für Kassenpatienten nehmen – nicht 20, sondern mindestens 25 Stunden pro Woche, Hausbesuche inklusive. Ist das wirklich zu viel?

Es ist unstrittig, dass die Vertragsärzte für Kassenpatienten im Mittel schon jetzt 37 bis 38 Stunden pro Woche aufbringen. Sie operieren, machen Sonografien, untersuchen den Patienten, sprechen mit ihm. Es stellt sich also die Frage, ob es sich bei der Vorgabe nicht um reine Polemik handelt wie bei den Golf-Eskapaden des Kollegen Lauterbach.

Der Minister argumentiert damit, dass Kassenpatienten bei den Ärzten oft viel zu lang auf Termine warten müssen…

Wenn man mehr Zeit für die Patienten fordert, braucht es entweder mehr Ärzte oder man muss den Praxisablauf stärker optimieren. Ich gehe davon aus, dass Kollegen, die das lange machen, eine gute Organisation haben. Sollen wir also weniger Untersuchungen machen, um dadurch pro forma die Sprechstundenzeit zu verlängern? Nein, das Vorhaben ist unausgegoren und überhaupt nicht zielführend.

Immerhin soll es für die Mehrarbeit auch mehr Geld geben, rund 600 Millionen Euro. Für offene Sprechstunden und neue Patienten, sogar für Facharzt-Vermittlung fließen Sonderhonorare. Reicht das nicht?

Jens Spahn ist der erste Gesundheitsminister seit langem, der für mehr Leistung auch mehr Geld in Aussicht stellt. Eine Selbstverständlichkeit im Geschäftsleben, in der Medizin leider nicht. Wir erkennen das an. Bei all den Teilregelungen fürchte ich nur, dass die Ärzte auf ihre sechs bis sieben Bürokratiestunden pro Woche nochmal zwei draufpacken können. Außerdem wehren wir uns gegen den Zwang für alle. Ein Hausarzt mit 65 macht die Mehrarbeit womöglich nicht mit. Dass er hinwirft, können wir uns bei dem bestehenden Mangel aber nicht leisten.

Was schlagen Sie vor?

Das sinnvollste wäre, die Budgets abzuschaffen und alles, was erbracht wird, auch zu bezahlen. Wenn das nicht gleich in vollem Umfang geht, sollten zumindest die Erstkontakte voll vergütet werden. Das wäre ein Anreiz, so ließen sich sicher noch Reserven heben. Wir müssen das aber regional unterschiedlich handhaben. In München gibt es andere Erfordernisse als in einem Alpendorf. Ich warne davor, allen die gleiche Lösung überzustülpen. Das wird scheitern.

Spahn greift wie kein anderer Gesundheitsminister vor ihm in die Selbstverwaltung ein. Ist das hilfreich oder gefährlich?

Kommt drauf an, was man will. Spahn ist ein Minister mit hoher Schlagzahl. Er hat viele Ideen, die er schnell umgesetzt haben will. Das geht manchmal nicht so flott. Es gibt natürlich Beispiele, wo sich jedem die Haare aufstellen: Dass die Sache mit der elektronischen Gesundheitskarte jetzt schon 14 Jahre dauert, ohne dass Nennenswertes herausgekommen ist, zum Beispiel. Darüber schüttelt jeder den Kopf.

Andreas Gassen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (r.). Dessen Vorschläge sind für den BKV-Chef „überhaupt nicht…

Oder dass zehn Jahre darüber diskutiert wird, ob bestimmte Operationen von den gesetzlichen Kassen zu zahlen sind…

Ja, aber für solche Entscheidung braucht es harte Daten. Wir geben den Kassenpatienten ja ein hohes Versprechen: Die Versorgung, die sie erhalten, ist sicher, hilft erwiesenermaßen, birgt kein Risiko. Man muss bei allem Verständnis für schnellere Entscheidungen sicherstellen diese Garantie nicht zu gefährden. Man muss da vorsichtig sein. Ich kann verstehen, dass man sich mehr Dynamik wünscht. Aber ein System schafft eben nur in gewissem Maße Output.

Die Ärzte wollen keinen Zwang zur Mehrarbeit. Aber Aufgaben abgeben wollen Sie auch nicht. Was wäre so schlimm daran, wenn man sich künftig auch in der Apotheke gegen Grippe impfen lassen könnte?

Fragen Sie mal Apotheker dazu, die werden da schnell schmallippig. Das Problem von Impfschäden ist zwar überschätzt. Aber eine Impfunverträglichkeit kann jeder haben. Wenn der Patient in der Apotheke umfällt, ist das ein Problem, denn Apotheker sind dafür nicht ausgebildet. Sie müssten auch Extraräume für Notfallmanagement vorhalten. Und sie würden Medikamente impfen, die sie selber verkaufen. Das passt nicht zusammen.. Für Ärzte ist das Impfen kein  großer Aufwand, sie haben das Setting, sie bekommen es vergütet. Das Impfen gehört nicht in die Apotheke.

Die Deutschen sind Weltmeister in Sachen Arztkontakte. Woran liegt es, dass die Wartezimmer bei uns so voll sind?

Es liegt aber vor allem daran, dass es die Patienten nichts kostet. Und es gibt keine echte Steuerung. Jeder Patient kann jederzeit zu jedem beliebigen Facharzt – und wenn er nicht zufrieden ist, gleich zum nächsten. Wir haben Fälle, wo Patienten in einem Quartal fünf oder sechs HNO-Ärzte aufsuchen. Es gibt sogar welche mit mehreren Hausärzten. Diesen freien Zugang leistet sich kein anderes Land der Welt. Es sei denn, der Patient zahlt dafür.

Sie stellen die freie Arztwahl in Frage?

Nein. Viele Arztbesuche beruhen ja auf Unsicherheit, und Dr. Google befeuert das noch. Aber wie wäre es mit einem Tarif, bei dem man sich auf einen Arzt als Anlaufstelle verpflichtet, der dann als Lotse fungiert? Das könnte die Versorgung verbessern und unsinnige Arztkontakte vermeiden, Patienten kämen vielleicht auch schneller dran. Und es würde Ressourcen sparen. Solche Tarife könnten günstiger sein, es könnte auch Rückerstattungen geben. Und das Ganze auf freiwilliger Basis. Ich denke, ein solches Angebot würde viele Abnehmer finden.

Andreas Gassen ist seit März 2014 Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Sie vertritt auf Bundesebene die Rechte der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten. Gassen ist Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie.

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