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Kultur - 30.03.2019

William Boyd: „Der Brexit ist eine Schande“

„Unfähig“, „kopflos“, „dumm“: Schriftsteller William Boyd nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um den Brexit geht. Mit der DW redete er über sein Buch „Blinde Liebe“, britische Politiker – und sich in Rage.

Seit den 1980er Jahren veröffentlicht William Boyd Romane und ist zu einem der weltweit erfolgreichsten englischsprachigen Autoren geworden. Geboren wurde er 1952 als Sohn eines schottischen Arztes und einer schottischen Lehrerin in Accra, das im heutigen Ghana liegt und damals noch Teil einer britischen Kolonie war. 

In „Blinde Liebe“, Boyds neuestem Roman, geht es um das Leben eines Klavierstimmers, der in blinder Liebe der Frau eines berühmten Pianisten verfallen ist. Ein melodramatischer Roman, der über 500 Seiten das Schicksal eines Menschen an verschiedenen europäischen Schauplätzen nachzeichnet. Aber natürlich spricht man mit einem britischen Autor in diesen Tagen vor allem über das derzeitige Thema Nummer eins der Briten: den Brexit.

Deutsche Welle: Mr. Boyd, wie stehen Sie zum Brexit?

William Boyd: Er ist eine totale Katastrophe. Ich finde die Situation total beschämend. Sie ist eine Schande für unsere politische Klasse, eine Schande für unsere unfähige Premierministerin, für unseren unfähigen Oppositionsführer. Das ganze Land wird nur noch von diesem Ereignis, das sich niemals so hätte entwickeln dürfen, bestimmt. Der Brexit ist jetzt nach drei Jahren außer Kontrolle geraten. Die Politiker scheinen sich, mit wenigen Ausnahmen, wie kopflose Hühner zu verhalten. Sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen.

Am 23. März gingen viele Briten auf die Straße, um gegen den EU-Austritt ihres Landes zu demonstrieren

Das Austrittsdatum 29. März ist um zwei Wochen verschoben worden, ich habe aber keine Ahnung, was passieren wird. Bis vor Kurzem habe ich noch geglaubt, dass ich wüsste, wo’s lang geht. Aber nach den Ereignissen der letzten zwei Wochen kann ich das nicht mehr sagen. Das ist absolut schockierend.

Sie haben ja den Marsch in London am vergangenen Wochenende gegen den Brexit verfolgt. Die Petition zum Widerruf von Artikel 50 (eine Petition gegen den EU-Ausstieg Großbritanniens, Anm. d. Red.) wurde inzwischen von über fünfeinhalb Millionen Menschen unterschrieben. Das hat es in unserem Land so noch nie gegeben. Das zeigt doch nur, wie stark der Brexit die Menschen beschäftigt, wie sie das emotional berührt.

Die Idee, die EU zu verlassen, ist doch eigentlich nur die Idee einer kleinen Anzahl konservativer Parlamentsabgeordneter, die schon seit Jahrzehnten die Loslösung von Europa fordern. Irgendwie haben sie den politischen Prozess so stark beeinflussen können und auch David Cameron auf ihre Seite gezogen. Er hat ihnen nachgegeben. Cameron ist der Hauptverantwortliche. Es ist zunächst einmal seine Schuld, seine Dummheit. Das wurde dann von Theresa May und ihrer Inkompetenz als politische Führerin noch verschärft. Sie hat eine Reihe von fürchterlich schlechten Entscheidungen getroffen. Und diese Leute haben wir gewählt! Es ist beschämend. Ich muss jetzt aufhören, sonst rede ich mich in Rage…

William Boyd: „Wir sind heute in diesem Schlamassel wegen David Camerons Selbstgefälligkeit.“

Sie haben „Blinde Liebe“ an verschiedenen europäischen Schauplätzen angesiedelt. Fast könnte man meinen, dass Sie ganz bewusst einen europäischen Roman im Sinn hatten. Ist das so?

Ich habe das Buch lange vor der Brexit-Sache angefangen. Ich glaube auch nicht, dass Schriftsteller Romane über zeitgenössische Ereignisse schreiben sollten, da die Ereignisse sie überholen und Bücher so sehr schnell veralten. Romane über den Brexit werden wahrscheinlich erst in 30 Jahren geschrieben. Alle großen Romane über historische Momente sind doch ziemlich lange nach den eigentlichen Ereignissen geschrieben worden. Es viel zu früh, Stift und Papier in die Hand zu nehmen und über so etwas in Form eines Romans zu schreiben.

Nehmen Sie zum Beispiel die Anschläge vom 9. September 2001. Es wurden zwar schon ein paar Romane darüber geschrieben, aber letztendlich ist es noch zu früh dafür. Da brauchen wir wahrscheinlich noch weitere 20 Jahre, um den 11. September ganz zu begreifen. Und so wird es auch mit dem Brexit sein – bis der Staub sich über den Brexit verzogen hat. Irgendjemand wird dann auch darüber einen Roman schreiben – wenn es dann noch interessant genug ist.

Ich bin also kein Romanschriftsteller, der sich mit den tagtäglichen Ereignissen des Lebens beschäftigt, das hat sich schnell überholt. Ich schreibe lieber über allgemein menschliche Dinge, die zeitlos sind. Das betrifft schließlich alle Menschen und nicht nur diejenigen, die gerade in diesem Moment in London leben.

In Boyds neuem Roman „Blinde Liebe“ ist ein Klavierstimmer Hauptprotagonist

Gerade in diesen Tagen überschlagen sich die Ereignisse in London, Abstimmung folgt auf Abstimmung. Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie es weitergehen könnte?

Ich bin immer wieder von europäischen Zeitungen gebeten worden, über den Brexit zu schreiben, es waren italienische, französische, schweizerische und belgische. Warum auch immer sie mich gefragt haben, schließlich bin ich kein Experte in solchen Dingen. Aber sie wollten wohl einfach einen Roman-Autor anstelle eines politischen Journalisten. Ich habe dann immer über einen guten Brexit-Deal gesprochen. Ich habe immer eine Prognose aufgestellt, in der von einem Kompromiss die Rede ist – einfach, weil wir Briten darin immer sehr gut waren. Ich glaubte also immer daran, dass ein Deal zustande kommen würde – bis vor zwei Wochen. Ich glaube jetzt nicht mehr daran, weil die Spaltung in der konservativen Partei so groß ist und weil die Gruppe der „Little Englanders“ das Kommando übernommen haben…

…was verstehen Sie genau unter „Little Englanders“?

Das ist eine Redewendung bei uns. Darunter versteht man Menschen, die eine Art Fantasievorstellung von Großbritannien haben, von seiner „ruhmreichen“ Vergangenheit, den Tugenden der Briten. Es ist also nicht als Kompliment gemeint. Die Redewendung meint Menschen, die in der Vergangenheit leben, vom British Empire träumen, eine rosarote Weltanschauung davon haben. Es ist eine bürgerliche Gruppe privilegierter Engländer, die das Ausland nie wirklich gemocht haben, die Ausländer nie gemocht haben. Engländer, die in einer Art mythischem British Empire leben, mit Vorstellungen von dem, was angeblich „echt britisch“ ist.

„Offensichtliche Inkompetenz beim Regieren“ – William Boyd über Theresa May

Wie geht es nun weiter?

Ich denke, wenn nächste Woche nicht noch etwas total Überraschendes passiert, dann ist alles möglich. Es liegen ja derzeit mehr als sechs Optionen auf dem Tisch. Meine einst zuversichtliche Voraussage, dass wir einen Kompromiss finden, einen sogenannten weichen Brexit, ist nur noch eine von diesen vielen möglichen Ausgängen und Optionen. Momentan bin ich nur noch verzweifelt.

Warum glauben Sie, haben die Briten bei dem Referendum überhaupt so abgestimmt?

Zunächst: Das sonderbare am Brexit-Votum ist ja, dass nur ein Drittel der Bevölkerung für den Brexit gestimmt hat! Ein Drittel hat dagegen gestimmt. Das restliche Drittel hat gar nicht abgestimmt. Wenn man heute also sagt: „Das Volk hat gesprochen“, dann stimmt das nicht! Nur ein Drittel der britischen Bevölkerung hat gesprochen.

Damals hat sich eine sehr merkwürdige Koalition zusammengetan. Zum einen war da diese besagte „Little England“-Mentalität. Diese Gruppe hat dann bei der Abstimmung zu einer zweiten Gruppe gefunden, die für den Brexit war, nämlich der unzufriedene, abgehängte Teil der Arbeiterklasse, eine Minderheit auch bei Labour: Menschen, die man immer „links“ einordnet, die aber auch echte Probleme haben. Ihre Jobs waren schlecht, die Orte, an denen sie lebten, wurden vernachlässigt. Jeder machte Europa für seine speziellen Probleme verantwortlich. Das ist eigentlich völlig unlogisch und auch dumm: Die beiden Gruppen haben nichts gemeinsam, abgesehen davon, dass sie Europa als Ursprung all ihrer Probleme sehen.

In dem Moment kam dann David Cameron, der sich um ein paar Sitze im Parlament irgendwann in der Zukunft Sorgen machte. Er hat deshalb die Brexit-Abstimmung auf die Tagesordnung gesetzt – gerade zu einer Zeit, als die Stimmung antieuropäisch war. Es ist Camerons Schuld, seine Verantwortung. Wir sind heute in diesem Schlamassel wegen David Camerons Selbstgefälligkeit. Das ist jetzt die brutale Konsequenz seiner Politik, die dann ihre Fortsetzung in der erstaunlichen Inkompetenz von Theresa May gefunden hat. Wir befinden uns momentan ohne jede Steuerung auf offenem Meer – mal sehen, ob wir wieder in den sicheren Hafen finden.

Sie sind in Westafrika geboren, in Ghana, sind dort und in Nigeria aufgewachsen, haben dort gelebt, Sie sind in Schottland und England ausgebildet worden – hat diese Internationalität etwas mit Ihrem Blick heute auf den Brexit zu tun?

Ja, ich bin gewissermaßen Afrikaner, ich bin dort geboren. Afrika war für die ersten 20 Jahre meines Lebens meine Heimat, mein Zuhause, auch wenn ich in Schottland, in Großbritannien, ausgebildet wurde. Ich fühlte mich immer wie ein Außenseiter: Ich war nie wirklich Schottisch. Und natürlich bin ich auch kein Afrikaner, obwohl ich dort zeitweise gelebt habe. 

Ich glaube, ich war noch nie integriert und vielleicht ist das auch eine sehr gute Voraussetzung für einen Schriftsteller. Ich schaue immer von Außen auf die Dinge und kann so vielleicht manche Verrücktheit und Dummheit etwas klarer sehen.

Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass ich mich nicht so mit britischen Leben beschäftigt habe wie andere Schriftsteller. Aber ich muss auch sagen, dass ungefähr 99,99 Prozent aller Autoren die EU nicht verlassen wollen und nicht zum Lager der Brexiteers gehören. Die Europäische Union verlassen zu wollen, ist eine sehr anti-intellektuelle Position. Und so ist es zutiefst frustrierend, sich mit dieser Mentalität der „Little Englanders“ zu beschäftigen.

Das Gespräch führten Courtney Tenz und Jochen Kürten.

William Boyds neuer Roman „Blinde Liebe“ ist im Kampa Verlag erschienen und hat 508 Seiten. ISBN 978 3 311 10004 1.

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