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Wissen - 07.05.2019

Kampagnen senken die Zahl der Analphabeten

Viele Erwachsene können nicht richtig Deutsch lesen. Die neuen Zahlen dazu wirken alarmierend – aber vor neun Jahren waren es noch deutlich mehr.

Sprachübungen in einem Alphabetisierungskurs an einer Volkshochschule.

Kaum mehr als seinen Namen schreiben zu können, einzelne Wörter oder Sätze nicht ohne grobe Fehler zu Papier zu bringen und selbst kurze Texte kaum zu verstehen, macht den Betroffenen das Leben schwer. 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben – 12,1 Prozent der Bevölkerung. Der Studie „LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität“ zufolge, die am Montag in Berlin vorgestellt wird, gibt es jedoch beim sogenannten funktionalen Analphabetismus einen positiven Trend.

Bei der Vorgängerstudie von 2010 hatten noch 7,5 Millionen Menschen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, die Quote lag damit bei 14,5 Prozent der 18- bis 64-Jährigen. Für LEO 2018 (Level-One Studie) wurden im Sommer 2018 bundesweit rund 7200 deutschsprechende Erwachsene befragt. Auftraggeber der Studie ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das 2016 die „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“ ausgerufen hatte. Bis 2026 werden mit insgesamt 180 Millionen Euro Angebote für gering Gebildete gefördert.

„Beachtlicher Fortschritt“ durch Enttabuisierung und Lernangebote

Verbessert hat sich die Lage auch bei den Menschen, die zwar zusammenhängende Texte verstehen, aber nicht gut lesen und sehr fehlerhaft schreiben. Hier ging die Zahl von 13,4 auf 10,6 Millionen Erwachsenen zurück. Den „beachtlichen Fortschritt“ führen das BMBF und die Kultusministerkonferenz (KMK) auf die neuen Lernangebote zurück, für die vielfach auch Arbeitgeber gewonnen worden seien. Zudem gelinge es, den Analphabetismus zu enttabuisieren – und es Betroffenen dadurch zu ermöglichen, sich ihrer Einschränkung zu stellen und dagegen aktiv zu werden.

Dazu könnte die Kampagne des Bundesbildungsministeriums beigetragen haben, bei denen TV-Spots beispielsweise einen Mann auf einem Sprungbrett zeigten, der sich nach einem Blick auf sein am Beckenrand stehendes Kind ins kalte Wasser stürzt. Die nächste Einstellung zeigte den Mann in einer Lernsituation. Zu den neuen Angeboten zum Selbstlernen gehört das Volkshochschul-Portal „ich-will-lernen.de“. Hinzu kommen Grund-Bildungs-Zentren wie in Berlin oder das bundesweit tourende Alfa-Mobil, in dem Betroffene beraten werden.

Studienleiterin: Ausgrenzung durch geringe Literalität

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sagte der Nachrichtenagentur dpa, trotz der Fortschritte dürften „Politik und Gesellschaft aber nicht nachlassen“ im Kampf gegen den Analphabetismus. Tatsächlich ist das Problem des Nicht-lesen-und-schreiben-Könnens noch lange nicht behoben. „Die neue Leo-Studie zeigt, dass das Leben mit geringer Literalität mit Ausgrenzungen und großen Unsicherheiten im Alltag verbunden ist“, erklärt Studienleiterin Anke Grotlüschen, Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg, nach einer vorab verbreiteten Pressemitteilung.

Wer sind die Betroffenen? Mehrheitlich handelt es sich um Erwerbstätige, die in einer Familie leben, meist jedoch zu den Geringverdienenden gehören, heißt es. Männer haben mit 58,4 Prozent häufiger Probleme beim Lesen und Schreiben als Frauen, den größten Teil machen zudem Erwachsene über 45 Jahren aus. 22, 3 Prozent der Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen haben keinen Schulabschluss.

Mehr Betroffene ohne Deutsch als Herkunftssprache

Von den Menschen, die geringe Schreib- und Lesekompetenzen haben, lernten 47,4 Prozent in ihrer Kindheit zuerst eine andere Sprache als Deutsch. Von ihnen können 42,6 Prozent nicht richtig lesen und schreiben. Bei Erwachsenen mit Deutsch als Herkunftssprache sind es dagegen 7,3 Prozent. Zugewanderte ohne ausreichende mündliche Deutschkenntnisse wurden nicht getestet und befragt. Karliczek erklärte gegenüber der dpa, Menschen mit Migrationshintergrund müssten „stärker beachtet“ werden.

In der Studie wurden nicht nur die Lese- und Schreibkenntnisse getestet, sondern auch nach dem Verhalten etwa in finanziellen Dingen und in der Freizeit gefragt. Hier zeigt sich, wie sehr die gesellschaftliche Teilhabe Betroffener eingeschränkt ist: So traue sich nur jeder Zweite zu, den Telefon- oder Stromanbieter zu wechseln, ebenso wenige sind finanziell nicht in der Lage, eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu machen. Und nur 58,6 Prozent können ohne Unterstützung Formulare bei ihrer Ärztin oder im Krankenhaus ausfüllen – in der Gesamtbevölkerung sind es 85 Prozent.

Neuer Begriff, um nicht zu stigmatisieren

Die Forschenden um Grotlüschen wollen das Tabu, gar nicht oder kaum lesen und schreiben zu können, weiter aufbrechen. Sie schlagen vor, nicht länger von funktionalem Analphabetismus zu sprechen. Dieser Begriff sei „stigmatisierend“. Plädiert wird stattdessen für die Bezeichnung geringe Literalität beziehungsweise gering literalisierte Erwachsene. Das entspreche der starken Rolle der Schriftsprache in unserer Gesellschaft – und sei besser anschlussfähig in der internationalen Diskussion. Im Englischen ist die Rede von low literacy.

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