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Politik - 21.11.2018

Dein Freund und Schläger?

Über Polizeigewalt wird derzeit viel debattiert – aber wenig geforscht. Die Uni Bochum startet nun die bundesweit erste systematische Studie. Polizeigewerkschaften werfen den Studienmachern Rufschädigung vor. 0

Mit den Gewalttaten von Polizisten beschäftigt sich Tobias Singelnstein seit 15 Jahren. Aufmerksam auf das Thema wurde der Kriminologe vor allem durch einen erstaunlichen Umstand: Bundesweit gibt es pro Jahr über 2000 Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger Gewalt. Aber in aller Regel bleiben diese Anzeigen folgenlos. Fast 90 Prozent der Verfahren werden eingestellt. Und zu einer Anklage bei Gericht kommt es nur sogar in zwei bis drei Prozent der Fälle.

In NRW etwa gab es im Vorjahr nur fünf Anklagen – bei 715 Fällen. Das machte den Bochumer Forscher stutzig. Wie kann das sein, wenn doch bei anderen Delikten nicht zwei bis drei, sondern im Durchschnitt 19 Prozent aller Anzeigen zu Anklagen führen?

Eine Antwort hofft er nun zu finden. Der Forscher hat die deutschlandweit erste systematische Studie zum Thema Körperverletzung im Amt durch Polizisten gestartet. Das klingt vielversprechend. Immerhin wird über Polizeigewalt zwar viel debattiert – aber wenig gewusst. Ein stabiles Datenfundament fehlt bislang.

Gefördert wird die Studie deshalb auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die dem Team um Singelnstein attestiert, eine Forschungslücke entdeckt zu haben. Die versucht das Expertenteam nun in einem Zwei-Phasen-Projekt zu schließen. In der ersten Phase werden die Betroffenen ab sofort online befragt. Um möglichst viele Freiwillige als Teilnehmer zu gewinnen, wird die Umfrage nun breit beworben. In einer zweiten Phase sollen die Aussagen dann ausgewertet werden, für 2019 wird mit ersten Ergebnissen gerechnet.

Doch so durchdacht das Konzept sein mag – weder die Studienmacher noch ihre Kritiker erhoffen sich davon repräsentative Aussagen. Denn für eine repräsentative Stichprobe müsste man bis zu 200.000 Menschen zufällig auswählen und befragen, was sich schwerlich finanzieren lässt. Allerdings muss man hinzufügen: Vielen sozialwissenschaftlichen Studien, die sich relativ kleinen Bevölkerungsgruppen widmen, mangelt es an Repräsentativität. Deshalb können sie dennoch für die Forschung relevante Hinweise liefern – aber eben nicht mehr als Hinweise.

Um die Deutung dieser Studienergebnisse dürfte jedenfalls heftig gestritten werden. Denn selbst grundlegende Voraussetzungen, von denen die Bochumer Wissenschaftler ausgehen, werden keineswegs überall geteilt. Das gilt unter anderem für die Frage nach den typischen Opfern polizeilicher Gewalt. Natürlich beteuert Studienleiter Tobias Singelnstein im Gespräch mit WELT, die Forscher würden ergebnisoffen analysieren, welche Personen in welchen Situationen Opfer von rechtswidriger Polizeigewalt werden. Aber gänzlich unvoreingenommen gehen sie dabei nicht zu Werke.

Minderheiten als vermutete Opfer

So hat Singelnstein bereits vor Jahren seine umstrittene Vermutung geäußert, es gebe bestimmte Bevölkerungsgruppen, die häufiger als andere Opfer polizeilicher Gewaltausbrüche würden. Vor allem „Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten mit geringer Beschwerdemacht, die seltener Anzeigen erstatten und mit diesen auch seltener gehört werden“, dürften „mutmaßlich überdurchschnittlich häufig Opfer von Übergriffen werden“.

Gegenüber dieser Zeitung differenzierte Singelnstein diese Vorannahme. Es gebe „zwar nicht die eine klassische Situation, in der es zu rechtswidriger Polizeigewalt kommt, wohl aber Situationen, in denen sich solche Vorfälle häufiger ereignen“. Zum einen seien das klassische Konfliktkonstellationen, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, zum Beispiel die Begegnung von Polizisten mit Fußballfans oder mit politischen Aktivisten bei Demonstrationen. Zum anderen seien „Opfergruppen wie Geflüchtete, Wohnungslose und Drogennutzer mutmaßlich besonders belastet“.

Bereits diese Vorannahme wirkt auf Erich Rettinghaus aber „leicht diffamierend und rufschädigend“. Der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) hält es für ein Klischee, „dass sich die Polizei auf die Schwächsten in einer Gesellschaft stürzt und diese misshandeln würde“. Tatsächlich sei es umgekehrt: Alkoholisierte oder unter Drogen stehende Personen würden polizeilichen Anordnungen öfter nicht folgen und häufiger von sich aus gegenüber Dritten handgreiflich werden. Deswegen komme es bei diesen Gruppen unvermeidlich zu Zwangsmaßnahmen der Polizei, argumentiert Rettinghaus im Gespräch mit dieser Zeitung.

Falsche Vorannahme?

Wie viel Streitpotenzial aber in der Studie steckt, lässt auch ein weiterer Punkt erahnen: Als Auslöser für sein Forschungsprojekt bezeichnet Singelnstein die so auffallend niedrige Zahl von Anzeigen gegen gewalttätige Polizisten, die zu einer Anklage geführt haben. Das erst brachte den Studienleiter auf den Verdacht, hier könne es ein großes Dunkelfeld geben. Für Polizeigewerkschafter Rettinghaus beweist diese niedrige Zahl von Anklagen jedoch das exakte Gegenteil.

Polizei räumt Protestcamp auf RWE-Gelände Das Video konnte nicht abgespielt werden.
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In der Nähe des Hambacher Forsts hat die Polizei ein Protestcamp geräumt. Einige Demonstranten mussten weggetragen werden. Der Energie-Konzern RWE hatte zuvor Anzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet.

Ihm zufolge sei es „mittlerweile ein verbreiteter Reflex, dass meist auch das polizeiliche Gegenüber eine Strafanzeige auf Körperverletzung im Amt stellt“, sobald Polizisten jemanden per Zwangsmittel des Platzes verweisen, in Gewahrsam nehmen und anzeigen. Davon versprächen sich die Betroffenen Vorteile im eigenen Strafverfahren. Wenn nur wenige Anzeigen wegen angeblicher Polizeigewalt in Anklagen mündeten, beweise das nur eins: dass die Staatsanwaltschaft schnell erkannte, wie unberechtigt die Anzeigen meist waren.

Nun bestreitet auch Singelnstein nicht, dass manche Anzeige unberechtigt sein dürfte, etwa weil die Betroffenen nicht wissen, wozu die Polizei berechtigt ist und dass sie zum Beispiel im Notfall mit körperlicher Gewalt dafür sorgen darf, dass ein Platzverweis befolgt wird. Allerdings glaubt der Kriminologe, dass es sich dabei um einen „eher kleinen Anteil“ aller Anzeigen handelt.

Häufiger führt Singelnstein die Einstellung solcher Verfahren auf Verhaltensweisen bei Polizeibeamten zurück, die ihrerseits die Grenze zur Strafbarkeit schrammen. So fänden sich „nur sehr selten Polizisten, die gegen ihre eigenen Kollegen aussagen“. Eher würden die beschuldigten Beamten sogar gedeckt. Zumindest aber legten „die Beamten bei Verfahren gegen Kollegen nicht den größten Eifer an den Tag“. Ursächlich dafür sei unter anderem Kameraderie, aber auch innerpolizeilicher Druck.

Indirekt weisen die Forscher aber auch Richtern und Staatsanwälten eine Mitverantwortung für angeblich unentdeckte Polizeigewalt zu. Jedenfalls bezeichnet Singelnstein es als „problematisch, dass Aussagen von Polizisten in der Justiz als besonders glaubwürdig gelten und in der Glaubwürdigkeitshierarchie der Justiz ganz oben stehen“.

Dieser Einschätzung widersprechen die Staatsanwälte und Richter beim Deutschen Richterbund nur zum Teil, schließlich gebe es in vielen Fällen ja gute Gründe dafür, Polizisten als vertrauenswürdig einzustufen. Immerhin sind Polizisten professionelle Zeugen. In nahezu jedem Strafverfahren greift die Justiz auf ihre Zeugenaussagen zurück. Zudem sind die Ordnungshüter in ihrer Ausbildung geschult worden, verlässliche Zeugenaussagen anzufertigen. Wenn aber Aussage gegen Aussage steht, haben Polizisten damit stets einen Vorteil auf ihrer Seite – auch wenn sie selbst die Angeklagten sind.

Hilft eine unabhängige Kontrollstelle?

All das lässt Raum für Spekulationen über das wahre Ausmaß polizeilicher Straftaten. Darauf haben Bundesländer wie Bayern und Rheinland-Pfalz mit der Einrichtung einer Dienst- oder Beschwerdestelle reagiert. Sie sollen entsprechenden Vorwürfen nachgehen. Doch diese Stellen bleiben in der Regel weisungsgebunden, zudem besteht ihr Personal überwiegend aus Polizisten.

Besser wäre laut Singelnstein eine aus unterschiedlichen Experten zusammengesetzte und wirklich unabhängige Beschwerdeeinrichtung nach Vorbild der früheren Hamburger Stelle, die bis 2000 existierte. Sie wurde vom Parlament eingesetzt und diente nicht nur als verschwiegene Ansprechstelle für Whistleblower, sondern besaß auch weitgehende Rechte zur polizeiinternen Ermittlung. Obendrein war sie keiner Behörde und schon gar nicht der Polizeiführung gegenüber rechenschaftspflichtig.

Allerdings hatte dieses bei vielen Bürgerrechtlern beliebte Vorbild einen Haken: Die Hamburger Polizisten fühlten sich von der Stelle fast wie von einer Inquisition verfolgt – und sabotierten ihre Arbeit, bis sie geschlossen wurde.

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