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Politik - 14.11.2018

Durchkitzeln auf dem Schoß des Pastors

Die Evangelische Kirche will eine lückenlose Aufklärung der sexualisierten Gewalt in ihren Einrichtungen. Eine Bischöfin erinnert an den größten Missbrauchsskandal und mahnt: „Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr.“ 0

Die Bischöfin fand klare Worte. Von „wiederholt erfahrener Ignoranz“ sprach sie, von „mangelnder Empathie“, von „Verrat von Vertrauen und Gefühlen“. Die Worte, die Kirsten Fehrs auf der in Würzburg tagenden Synode für die Schuld gegenüber jenen fand, die in der Kirche zu Opfern sexualisierter Gewalt geworden sind, waren ein unverblümtes Bekenntnis. In dieser Deutlichkeit war es längst überfällig.

Dass es auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die keinen Zölibat kennt und so weitgehend befreit war vom Verdacht, ein Hort sexueller Verklemmungen zu sein, Missbrauch stattfand, war lange nicht im allgemeinen Bewusstsein. Doch als sich 2010 im Zuge der Enthüllung der Skandale in katholischen Einrichtungen die ersten Opfer evangelischer Geistlicher zu Wort meldeten, kam ein Fall nach dem anderen ans Licht.

„Emotionale Auseinandersetzung mit dem Nichtvorstellbaren“

Zwei Drittel der Verbrechen ereigneten sich in Heimen. Im Mai veröffentlichte der Kirchenkreis Hamburg-Ost eine Zwischenbilanz zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im Kinderheim Margaretenhort in Hamburg. Fünf ältere männliche Heimbewohner sollen in den 80er-Jahren gegenüber sechs Mädchen und einem Jungen übergriffig geworden sein. Die Betreuer schauten weg. Auch in den Heimen der evangelischen Brüdergemeinde Korntal kam es zu massiver sexualisierter Gewalt. Die Täter waren Erzieher und ein Hausmeister.

Der „Bericht zur Verantwortung und Aufarbeitung bei sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche“, den Fehrs dem evangelischen Kirchenparlament am Dienstag vorlegte, war mehr als ein Schuldgeständnis. Mehr als die Nennung von Zahlen, wie die 479 bekannt gewordenen Fälle sexualisierter Gewalt seit 1950; bei denen kann davon ausgegangen werden, dass sie einer hohen Dunkelziffer gegenüberstehen. Bemerkenswert war, wie eindringlich die Bischöfin dafür plädierte, sich auf das einzulassen, was viele in der Kirche am liebsten verdrängen würden. Fehrs, Landesbischöfin der Nordkirche, ist EKD-Ratsmitglied und Sprecherin des Beauftragtenrates, der sich mit dem Thema Missbrauch befasst.

Aufarbeitung, sagte Fehrs, umfasse mehr als eine wissenschaftliche Analyse. „Es ist eine emotionale Auseinandersetzung mit dem Nichtvorstellbaren, Abgründigen: Sexualisierte Gewalt in Räumen, in denen man einst mit Inbrunst sang ,Geh aus mein Herz‘.“

Und die Bischöfin führte schonungslos vor Augen, was in diesen Räumen geschah. In Ahrensburg zum Beispiel, nördlich von Hamburg, wo sich der bisher größte bekannte Missbrauchsskandal in der evangelischen Kirche ereignete. In den 70ern und 80ern hatte der evangelische Pastor, der als progressiv und reformpädagogisch galt, Heranwachsende missbraucht. Unter ihnen waren auch seine Stiefsöhne. Die Grenzüberschreitungen in der kirchlichen Jugendgruppe waren schleichend, so schilderte es Fehrs: Durchkitzeln auf dem Schoß des Pastors. Flirten. Psychospiele zwecks Selbsterfahrung. Alkohol. Irgendwann endete es in massiver sexualisierter Gewalt.

Er kümmerte sich vor allem um jene, die in der Krise waren. Da konnten sie ihm doch auch ein bisschen Dankbarkeit erweisen? Wer aussteigen, die ungute Beziehung beenden wollte, wer drohte, an die Öffentlichkeit zu gehen, wurde weiter manipuliert, so Fehrs: Wem wird man glauben? Dir – oder mir?

Als 2003 eine Frau aus Ahrensburg ihr Schweigen brach und sich an die Kirchenleitung wandte, wurde der Pastor lediglich versetzt – ausgerechnet in eine Jugendstrafanstalt, als Seelsorger. Erst 2010 kamen die Ausmaße des Skandals ans Licht, in dessen Konsequenz die damalige Bischöfin Maria Jepsen zurücktrat.

Der beschuldigte Geistliche erleichterte sein Gewissen mit einem in der „Evangelischen Zeitung“ veröffentlichten Schuldeingeständnis. Er wurde aus dem Pastorendienst entlassen und verlor seine kirchlichen Pensionsansprüche. Strafrechtlich wurde er nicht verfolgt: Die Taten waren verjährt.

Die Nordkirche hatte aus Ahrensburg ihre Konsequenzen gezogen und eine unabhängige Expertenkommission mit der Aufarbeitung beauftragt. Der 2014 veröffentlichte 400 Seiten starke Bericht zeigt, dass die Geschehnisse in der idyllischen Gemeinde bei Hamburg kein Einzelfall waren. Er zeigt aber auch, dass die evangelische Kirche durchaus in Sachen Aufarbeitung, Maßnahmen und Prävention einiges getan hat.

Die Glaubwürdigkeit der Kirche steht auf dem Spiel

Fehrs verwies dabei auch auf die Unabhängigen Kommissionen, die in zehn Landeskirchen eingerichtet wurden und Zahlungen an Betroffene leisten. Zudem wurden 2012 und 2016 Vereinbarungen mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geschlossen, in denen sich die EKD verpflichtete, Schutzkonzepte in allen Gemeinden und Einrichtungen zu schaffen. Erste Ansätze – für eine umfassende Aufarbeitung und Prävention reichen sie nicht.

Bischöfin Fehrs legte der Synode in Würzburg jetzt einen elf Punkte umfassenen Handlungsplan vor. Neben der Einrichtung einer unabhängigen zentralen Ansprechstelle sieht er auch neue Studien vor. Sie sollen den tatsächlichen, jetzt noch im Dunkeln liegenden Umfang des Missbrauchs ermitteln und analysieren, inwieweit Strukturen die sexualisierte Gewalt begünstigen können. Rund eine Million Euro stellt die EKD für die Maßnahmen bereit. Der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm rief die Betroffenen auf, sich zu melden.

Der Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung begrüßt die von der EKD angekündigten Studien, an deren Empfehlungen er selbst mitgewirkt hat. Das Gremium fordert zudem die Aufarbeitung bisheriger Verfahren. Die Kirche müsse sich selbstkritisch fragen, inwieweit sie Täter geschützt habe. Kritisiert wird auch das Fehlen eines konkreten Zeitplans zur Umsetzung der angekündigten Punkte, zum Beispiel für die neu zu schaffende Anlaufstelle.

Für Bischöfin Fehrs steht indes die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel. „In aller Deutlichkeit“, sagte sie. „Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr.“

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