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Politik - 24.10.2018

„Es stirbt im schlimmsten Fall ein Kind“

Jugendämter in ganz Deutschland klagen über Personalmangel. Es fehlen gut ausgebildete Fachkräfte. Berlin will mit einem neuen Studiengang gegenwirken – und lockt mit einem bundesweit einmaligen Angebot. 0

Wer im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg Hilfe vom Jugendamt braucht, muss Zeit und Geduld mitbringen. Seit zwei Jahren läuft der Regionale Soziale Dienst, der Familien in Konfliktsituationen berät und begleitet, nur noch im Notprogramm. Im wöchentlichen Wechsel muss eine der drei Dienststellen ganz dichtmachen, um überhaupt eine Chance zu haben, die Aktenberge abzuarbeiten.

Nur der Notdienst für akut gefährdete Kinder bleibt geöffnet. Für Jugendamtsleiter Rainer Schwarz eine Art Notwehrmaßnahme. Von Pensionierungswelle und Nachwuchsmangel sind die Berliner Jugendämter allesamt betroffen, in Tempelhof-Schöneberg aber ist die Lage besonders prekär: Von den 85 Planstellen waren zum Stichtag 1. September ein Viertel nicht besetzt.

Bis zum Frühjahr will Schwarz zwar alle Vakanzen wieder besetzt haben. Doch schon jetzt ist absehbar, dass sich in den nächsten drei Jahren erneut 25 Mitarbeiter in den Ruhestand verabschieden. Erneut wird Schwarz auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt für Sozialarbeiter fähige Leute finden müssen. Ein Sisyphusjob.

Nicht nur in Berlin: Wie prekär die Situation bundesweit in den Jugendämtern ist, enthüllt eine im Mai dieses Jahres vorgelegte Studie der Hochschule Koblenz zu den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter – dem Bereich also, der Kinder vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch schützen soll. Dafür wurden 652 Mitarbeiter aus 175 Ämtern zu ihrer Situation befragt.

Mit entmutigenden Ergebnissen: Fast alle befragten Mitarbeiter klagten über zu hohe Arbeitsbelastung, die meisten Fachkräfte betreuten 50 bis 100 Fälle, in einigen Jugendämtern sogar mehr als 100.

Dazu kommen ein drastisch gestiegener Dokumentationsaufwand und die permanente Sorge, etwas übersehen zu haben, wie eine der interviewten Sozialarbeiterinnen es ausdrückte: „Dann die ständige Angst, irgendwo einen Fehler zu machen, und es stirbt im schlimmsten Falle ein Kind.“

„Jugendamt kann nur so gut arbeiten, wie es personell und materiell aufgestellt ist“ Das Video konnte nicht abgespielt werden.
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Der Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e. V., Rainer Becker, spricht in der Bundespressekonferenz über die neue Studie zu den Arbeitsrealitäten in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter.

Um für Entlastung zu sorgen, hat das Land Berlin die Jugendämter seit 2015 um 182 Stellen aufgestockt. 892 finanzierte Planstellen gibt es laut Bildungsverwaltung derzeit. Doch davon sind 120 trotz aller Anstrengungen unbesetzt, weil einfach das Personal fehlt.

„Es gibt insgesamt zu wenige geeignete Bewerber und Bewerberinnen“, sagt Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). „Teilweise wechseln Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen auch von einem bezirklichen Jugendamt ins andere – sodass eine Lücke geschlossen, aber gleich die nächste aufgerissen wird. Wir müssen also alles daransetzen, dass mehr Fachkräfte nachkommen.“

Doch statt darauf zu warten, was an Nachwuchs von den Hörsälen in die Amtsstuben gespült wird, ist Amtsleiter Schwarz aus Tempelhof-Schöneberg in die Offensive gegangen. Auf seine Initiative hin ist diese Woche ein bundesweit einmaliges Pilotprojekt an den Start gegangen: Ein dualer Studiengang an der privaten Hochschule für angewandte Pädagogik (HSAP).

Das Konzept: Die Studenten werden von den Jugendämtern ausgewählt und angestellt. Drei Tage arbeiten sie praktisch im Sozialen Dienst der Jugendämter, zwei Tage studieren sie die Theorie an der Hochschule. Dafür erhalten sie eine Ausbildungsvergütung von um die 1000 Euro, die Studiengebühren zahlt das Jugendamt.

Verwaltung handelte „blitzartig“

Nach dreieinhalb Jahren haben sie den Bachelor in Sozialer Arbeit und einschlägige Berufserfahrung. Dafür müssen sie sich verpflichten, weitere drei Jahre in „ihrem Jugendamt“ zu arbeiten. Eine Win-win-Situation. Das Ungewöhnliche: Von der Idee bis zur Umsetzung verging gerade einmal ein halbes Jahr.

„Für Verwaltungshandeln ist das geradezu blitzartig. Die Bereitschaft, mal über die eigenen Verwaltungshürden zu springen, war sehr groß“, sagt Schwarz, der vor seinem Job als Jugendamtsleiter als Unternehmensberater für soziale Organisationen gearbeitet hat. „Die Not treibt es voran.“

Im Frühjahr begannen die Verhandlungen mit der Hochschule, die bereits zwei duale Studiengänge in den Bereichen Ganztagsschule und Kindergarten anbietet. Im Mai und Juni entwickelten die Praktiker aus vier Jugendämtern gemeinsam mit den Hochschulprofessoren die Lehrinhalte für das Spezialmodul „Jugendamt“.

Die ersten sieben Studenten sind jetzt in der Pilotphase, ab dem kommenden Jahr soll der Bachelorstudiengang „Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe“ regulär angeboten werden. Die HSAP sei bislang die erste und einzige Hochschule in Deutschland, die eine solche Kooperation mit Jugendämtern eingehe, sagt Präsident Joachim Hage.

Die bisherigen Erfahrungen mit den Absolventen der dualen Studiengänge seien gut. Die meisten blieben auch nach dem Studium bei ihrem Arbeitgeber, nicht wenige übernähmen unmittelbar nach dem Studium bereits Führungsaufgaben.

Mehr Gehalt für Mitarbeiter

„Der Vorteil ist, dass die Studentinnen und Studenten gleich wissen, wovon wir sprechen“, sagt Studiengangsleiterin Erika Alleweldt. „Durch ihre Praxiserfahrung können sie die Studieninhalte ganz anders reflektieren.“ Senatorin Scheeres jedenfalls zeigt sich bereits überzeugt, dass auf diesem Weg „viele künftige Fachkräfte fürs Jugendamt gewonnen werden können“.

Dafür ist sie jetzt auch bereit, sich bei den Tarifverhandlungen 2019 für eine bessere Bezahlung einzusetzen. „Kinderschutz und die Unterstützung von Familien in sehr problematischen Situationen ist eine besonders anspruchsvolle und auch belastende Tätigkeit. Das spiegelt sich im Gehalt derzeit nicht wider.“

Vielleicht kann das Land die Stellen, die es zu vergeben hat, dann auch besetzen. Es wäre ausnahmsweise einmal eine Berliner Erfolgsgeschichte.

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