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Politik - 31.10.2018

Steinmeier sieht „Risse im demokratischen Fundament“

Bundespräsident Steinmeier fordert die etablierten Parteien nach den Wahlen in Bayern und Hessen auf, auch im eigenen Interesse mehr Risiko einzugehen. Sie sollten wieder „glaubhaft und mitreißend Zukunft zu entwerfen“. 0

Kein schlechter Tag für eine Präsidenten-Rede. Gerade haben die Wahlen in Bayern und Hessen die tektonischen Verschiebungen, denen Deutschlands politische Landschaft derzeit unterliegt, noch einmal in Prozentzahlen und statistischen Balkengrafiken manifestiert. Die SPD hat es fast schon gewohnheitsmäßig in ihre Einzelteile zerlegt, auch die Union ringt um Fassung und innere Stabilität.

Selbst die Bundeskanzlerin, die vielen schon ewig schien, hat entschlossener denn je die eigentliche Endlichkeit skizziert. Die Republik, keine Frage, steht an einem ihrer bisher nicht allzu zahlreichen Wendepunkte, womöglich vor einer Zeitenwende.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier konnte das alles natürlich nicht wissen, als er zusagte, mitten hinein in diese noch immer ziemlich unübersichtliche Gemengelage eine Rede zu halten, in der alljährlich „die drängendsten politischen und gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit analysiert und mögliche Lösungsstrategien entwickelt werden“ sollen.

Die Willy-Brandt-Rede, zu der die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung alljährlich nach Lübeck lädt, weckt jedenfalls nicht jedes Jahr so großes Interesse wie an diesem letzten Oktoberdienstag des Jahres 2018. 1500 Menschen in der Musik- und Kongresshalle der alten Hansestadt waren also gespannt, welchen Weg der Bundespräsident der Berliner Politik in dieser Lage weisen würde.

„Antidemokratische Stimmen nie wieder mehrheitsfähig werden“

Den größten Applaus, das vorweg, bekommt Steinmeier an diesem Abend für einen Satz, in dem er nicht allein „die Parteien“, sondern die Gesellschaft insgesamt für das weiter Gelingen von Demokratie verantwortlich macht. „Es bleibt“, sagt der Präsident unter Verweis auf das demokratisch legitimierte Scheitern der Weimarer Republik, „auch unsere politische Verantwortung – die Verantwortung jedes Einzelnen –, dass antidemokratische Stimmen nie wieder mehrheitsfähig werden!“

Zuvor hatte Steinmeier, auf Wunsch der Veranstalter wie er selbst zu Beginn seiner Rede betont, einen sehr langen Anlauf genommen. Über die inzwischen genau 50 Jahre zurückliegende Revolte der „68er“, über Gustav Heinemann, einen seiner Amtsvorgänger, über Willy Brandt selbst natürlich und dessen Vorsatz „mehr Demokratie wagen“ zu wollen. Steinmeier streift die Abgründe der RAF und das Betriebsverfassungsgesetz, natürlich auch den demokratischen Aufbruch des Jahres 1989 und weitere politische Wegmarken dieser Republik.

Deren Errungenschaften, der Bundespräsident nennt „Chancengleichheit, Teilhabe, Selbstbestimmung oder Gleichberechtigung“ würden zwar erhalten bleiben. Das „demokratische Fundament“ jedoch, das diese Errungenschaften aus seiner Sicht erst ermöglicht habe, zeige „unübersehbare Risse“. „Unsere Demokratie ist auch 2018 mit keiner Ewigkeitsgarantie versehen“, warnt das Staatsoberhaupt. Im Gegenteil.

„Die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen“

Die „gesellschaftlichen Fliehkräfte“, findet Steinmeier, seien erheblich gewachsen, „die Gegensätze schroffer, die Mauern höher, der Ton schärfer geworden“. Weltweit stehe das „westlich-liberale Demokratiemodell“ unter Druck. Es, zumindest in Deutschland, zu bewahren, auszubauen, vielleicht sogar ein Stück weit neu zu erfinden, ist für den Bundespräsidenten „nicht erst seit den Wahltagen in Bayern und Hessen“ zentrale Aufgabe der demokratischen Parteien.

Es liege an ihnen, „an den Volksparteien“, ob es gelinge, „alte Strukturen ganz grundlegend zu öffnen für neue gesellschaftliche Realitäten“. Auch daran, ob es diese Parteien schafften, „wieder glaubhaft und mitreißend Zukunft zu entwerfen“.

Das ist nun, wie Steinmeier natürlich auch weiß, nicht gerade die Stärke der amtierenden Parteiführungen dieser Volksparteien, womit der Präsident wieder zu Willy Brandt zurückkehrt. Dessen „mehr Demokratie wagen“ wünscht er sich auch heute von der Politik, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass zu dem Verb „wagen“ immer auch „ein Moment von Unsicherheit und Risiko“ gehöre.

„Wagt es“, ruft also Steinmeier den demokratischen Parteien zum Ende seiner Willy-Brandt-Rede zu, „die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen“. Nicht nur Union und SPD, die Koalitionsparteien, dürfen diese Aufforderung als Arbeitsauftrag des von ihnen gewählten Bundespräsidenten mit in die vermutlich recht turbulenten kommenden Wochen und Monate nehmen.

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