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Sport - 15.11.2018

Weltmeister Deutschland ist nun der Gejagte

Wenn der Siegestaumel vorüber ist, wird der Fußball-Weltmeister in allen Begegnungen der Favorit sein – was für eine Bürde! Wie geht es weiter mit dem Fußball in Deutschland?

Bastian Schweinsteiger bei der Siegesfeier

In Zeiten allgemeiner Euphorie ist keiner vor Überschwang gefeit. Das hat selbst der Kaiser, Franz Beckenbauer, erfahren. Bei seinem Abschied als Teamchef nach dem WM-Triumph 1990 hinterließ er seinem Nachfolger Berti Vogts die gewagte Prophezeiung, die deutsche Mannschaft sei auf Jahre hin unschlagbar. Nach dem jetzigen Titelgewinn hat sich Beckenbauer zunächst vorsichtiger geäußert: „Die deutsche Mannschaft wird sehr schwer zu schlagen sein.“ Um dann doch noch eine „deutsche Ära im Weltfußball“ vorherzusagen.

Wenn man die WM in Brasilien von ihrem Ende her betrachtet, hatte der Titel für die Nationalmannschaft in der Tat etwas Zwangsläufiges. Es gilt ja längst als fußballerisches Allgemeinwissen, dass Bundestrainer Joachim Löw über einen Spielerkader verfügen konnte, wie es nie einen besseren gegeben hat. Auf den zweiten Blick relativiert sich das ein wenig. Es stimmt: Im Mittelfeld konnte Löw auf Spieler zurückgreifen, von denen seine Vorgänger nur träumen konnte. In allen anderen Mannschaftsteilen – die Torhüterposition ausgenommen – ist das Angebot überschaubar.

1990 waren neun Spieler älter als 30 – diesmal drei

Um die Gegenwart zu verstehen, muss man noch einmal einen Blick zurück werfen. Während der Weltmeisterschaft in Brasilien hat sich zum zehnten Mal der Tag gejährt, an dem der deutsche Fußball seinen tiefsten Tiefpunkt erreicht hatte. Es war bei der Europameisterschaft 2004, als die Nationalmannschaft in der Vorrunde scheiterte, weil sie ihr letztes Gruppenspiel gegen eine tschechische B-Auswahl verlor. Im Kader der Deutschen standen damals neun Spieler, die älter als 30 waren. Jetzt in Brasilien waren es drei.

Kein Geringerer als Wolfgang Niersbach, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), der dafür bekannt ist, dass er sämtliche Länderspielaufstellungen seit ungefähr 1927 herunterrasseln kann, musste sich am Sonntagabend von einem jungen Mann belehren lassen. Matthias Ginter, 20 Jahre alt, Verteidiger vom SC Freiburg, verblüffte Niersbach nach dem Sieg im WM-Finale von Rio de Janeiro mit der Information, wer der jüngste deutsche Weltmeister der Geschichte ist. Es handelt sich um: Matthias Ginter. „Ist das wirklich so?“, fragte Niersbach später in die Journalistenrunde.

Man sollte noch erwähnen, dass Ginters Beitrag zum vierten WM-Titel für die deutsche Nationalmannschaft überschaubar war. Er ist einer von drei Feldspielern aus dem 23er-Kader, die in Brasilien nicht eine einzige Sekunde zum Einsatz gekommen sind. Allerdings kann man es auch damit zu einer gewissen Prominenz bringen. Günter Hermann zum Beispiel ist als Fußballprofi nur deshalb noch nicht vergessen, weil er bei der Weltmeisterschaft 1990 nicht gespielt hat. Er hat auch nach der WM nie mehr für die Nationalmannschaft gespielt, genauso wie Frank Mill und Paul Steiner, die 1990 ebenfalls ohne aktive Beteiligung den Titel geholt haben. Matthias Ginter wird das vermutlich nicht passieren.

Der 20-Jährige gilt als derart großes Defensivtalent, dass Borussia Dortmund bereit ist, für seine Verpflichtung eine stattliche Millionenablöse zu zahlen. Vielleicht ist das der große Unterschied zu 1990. Damals wurde der WM-Kader mit den alten Recken Hermann, 29 Jahre alt, Mill, 31, und Steiner, 33, aufgefüllt. Diesmal standen in der zweiten Reihe Spieler, denen in der Zukunft durchaus wichtige Rollen zuzutrauen sind: Ginter, Erik Durm, 22, und Kevin Großkreutz, 25, die in Brasilien gar nicht gespielt haben, dazu Julian Draxler, 20, Shkodran Mustafi, 22, und Christoph Kramer, 23, die sehr sparsam zum Einsatz gekommen sind. „Wie die Jungs im Training immer die erste Mannschaft gefordert haben, das stimmt mich zuversichtlich für die nächsten Jahre“, sagt Bastian Schweinsteiger.

Der DFB-Chef sagt: „Der Weg dieser Mannschaft ist noch nicht zu Ende“

Die Weltmeister werden auch in den nächsten Jahren noch den Kern des deutschen Teams bilden. Allein Miroslav Klose ist mit inzwischen 36 Jahren ein Kandidat für einen sofortigen Rücktritt. Alle anderen, inklusive Schweinsteiger, Lahm, Podolski und Mertesacker, können zumindest vom Alter her noch bei der Europameisterschaft in zwei Jahren spielen. Dazu kommen Marco Reus, Ilkay Gündogan und Mario Gomez, die bei der WM gefehlt haben, und etliche Talente, die jetzt vielleicht noch in der A-Jugend eines Bundesligisten spielen. „Der Weg dieser Mannschaft ist noch nicht zu Ende“, sagt DFB-Präsident Niersbach.

Die EM 2004 hat den letzten Impuls gegeben, dass sich etwas ändern musste. Seitdem wurde die Nachwuchsausbildung regelrecht revolutioniert. Das Ergebnis war am Sonntag in Rio de Janeiro zu sehen. Doch wie jede Revolution, so hat auch die im deutschen Fußball zu Überreaktionen geführt. Weil es vor zehn Jahren offenkundig an Technikern fehlte, wurde in der Ausbildung vor allem Wert auf Technik gelegt. Mit der Folge, dass es nun eigentlich in allen Vereinen ein Überangebot an talentierten Mittelfeldspielern gibt, während auf den alten deutschen Paradepositionen in der Verteidigung und im Sturm nationaler Notstand herrscht.

Max Eberl, der Manager des Bundesligisten Borussia Mönchengladbach, hat vor der WM in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ einen Mangel an robusten Typen im deutschen Fußball beklagt und das eigene Nachwuchsleistungszentrum explizit in diese Kritik eingeschlossen. Eberl hofft, dass künftig „auch Spieler gefördert werden, die nicht nur brillieren können, sondern auch kämpfen. Das muss in der Talentförderung definitiv eine Rolle spielen.“

Für die Talentförderung im DFB wird künftig der neue Sportdirektor Hans-Dieter Flick verantwortlich sein, der bisher als Assistent dem Bundestrainer zugearbeitet hat. Innerhalb der sportlichen Leitung galt Flick als der etwas Handfestere, der immer auch die guten alten deutschen Tugenden gepflegt hat. Dass etwa Löw während der WM intensiv hat Standardsituationen trainieren lassen, geht eindeutig auf Flicks Initiative zurück. Geschadet hat es definitiv nicht.

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