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Politik - 07.11.2018

„Er hat geholfen, meine geliebte Mutter zu ermorden“

Die Anklage schildert grausame Tötungsdetails. Der angeklagte ehemalige SS-Wachmann nimmt das zum Auftakt eines Prozesses am Landgericht Münster noch gefasst auf. Das ändert sich, als Holocaust-Überlebende sich äußern. 0

Es gibt viele Arten, Menschen zu Tode zu quälen, und Andreas Brendel lässt bei seiner Aufzählung keine aus. Im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig brachten die Deutschen ihre Opfer durch Erschießen, Genickschüsse, Phenol-Injektionen ins Herz, Gas, Schläge, Hundebisse um – oder sie trieben sie in den elektrischen Zaun. Sie ließen sie verhungern oder an Krankheiten zugrunde gehen.

All das war nach den Worten des Dortmunder Oberstaatsanwalts Brendel nur möglich, wenn einfache Wachmänner wie Johann R. mit ihrer „Wachdiensttätigkeit die mehrfach geschehenen Tötungshandlungen der Lagerinsassen durch die Haupttäter fördern“. Und das sei Beihilfe zum Mord.

Das hört sich Johann R. im Saal des Landgerichts Münster regungslos an. Er sitzt zusammengekauert in seinem Rollstuhl und gibt häufig zu verstehen, dass er schlecht hören kann, was im Saal gesprochen wird. Erst als ihm jemand einen Kopfhörer aufsetzt, scheint er der Verhandlung besser folgen zu können.

Schon sein Auftritt im Gerichtssaal lässt erkennen, dass dies kein gewöhnlicher Prozess wird. Ein Justizbeamter schiebt den Greis im Rollstuhl den Gang entlang zu seinem Platz, er trägt einen blassgrünen Schlapphut und hebt Sekunden lang die Hand zum Gruß, als er an den Kameraleuten und Fotografen vorbeigefahren wird.

Richter Rainer Brackhane verliest seine Personalien, er wurde 1923 in St. Georgen, Rumänien geboren und wohnt in einer kleinen Gemeinde im Münsterland, er ist geschieden und hat drei Kinder. Wenn er spricht, rollt das „r“ im Siebenbürger Dialekt. Seine einstige Heimat ist ihm wichtig, er engagiert sich seit Jahrzehnten in einer Landsmannschaft.

Johann R. studierte und promovierte nach dem Krieg und anschließender US-Kriegsgefangenschaft, später leitete er eine Behörde in Nordrhein-Westfalen.

Er hatte, das kann man sagen, ein gutes Leben. Einmal konfrontierte ihn die Staatsanwaltschaft mit seiner Vergangenheit – er sagte 1974 als Zeuge in einem anderen NS-Verfahren aus. Erst vor wenigen Jahren, in buchstäblich letzter Sekunde, nahmen die Strafverfolger die Ermittlungen gegen ihn selbst auf.

Brendel bringt das Dilemma des allzu späten Zeitpunktes in seiner Anklage selbst auf den Punkt, als er ihn der Beihilfe des Mordes beschuldigt, den andere, die „Haupttäter“ begingen. Doch die, die sich zuallererst hätten verantworten müssen, sind lange tot.

Die Haupttäter sind tot, nur einst sehr Junge leben noch

Heute leben nur noch die SS-Männer und -Frauen, die ganz jung zur Mordtruppe stießen. Und so verhandelt heute eine Jugendkammer am Landgericht gegen den Greis, da er in seiner Zeit in Stutthoff von Juni 1942 bis September 1944 als Heranwachsender gilt.

Von den Nebenklägern, die meist in Israel oder den USA leben, ist an diesem Tag keiner gekommen, wahrscheinlich wird während des Verfahrens kein Überlebender selbst aussagen können. Sie sind alle zu alt, zu gebrechlich, um noch nach Deutschland reisen zu können.

Das bringt das Verfahren in eine Schieflage: Dem alten Mann im Rollstuhl sitzt kein ebenso alter Mensch gegenüber, der Folter, Schläge, Sklavenarbeit und Hunger überlebt hat – und seinen Peiniger von einst in die Augen sehen kann. Das war in den Auschwitz-Verfahren von Lüneburg 2015 und Detmold 2016 noch anders, als Zeugen noch selbst berichten konnten.

„Wenn das Böse geschieht, gibt es keine Neutralität“

Über ihre Anwälte erhalten die Überlebenden aber doch eine Stimme. Der Nebenklagevertreter Christoph Rückel verliest eine Erklärung seiner Mandanten, die „dankbar sind, dass die rechtsstaatliche Bearbeitung nicht endet“. Sie fragten sich aber auch, warum es so lange dauerte, bis die Anklage erhoben worden sei. „Wenn das Böse geschieht, dann gibt es keine Neutralität“, so Rückel.

Der Jurist stellt auch den Antrag, das ehemalige KZ Stutthof, in dem sich heute eine Gedenkstätte befindet, zu besichtigen. Der Ortstermin solle beweisen, dass „jeder Wachmann auf dem Turm in der Lage war, die unmenschliche Behandlung der Gefangenen festzustellen und zu sehen, wie die ausgemergelten Gestalten ins Krematorium gebracht wurden“.

Selbst im Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 1960er-Jahren habe das Gericht eine Reise nach Auschwitz unternommen, obwohl die Bundesrepublik und Polen damals noch nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhielten.

Der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler verliest ebenfalls eine Erklärung. Sie stammt von der 89-jährigen Judy Meisel, die das Ghetto im litauischen Kovno überlebte, bevor sie nach Stutthof deportiert wurde. Dort ermordeten die Deutschen ihre Mutter in der Gaskammer. „Als ich zwölf Jahre alt war, wurde meine Familie von Deutschen in das Ghetto von Kovno gesperrt“, sagt sie.

Dort lernte das Kind, in vollkommen überfüllten Räumen zu leben, hart zu arbeiten und zu hungern. „Dennoch war ich nicht auf das vorbereitet, was danach kam.“ Sie erlebte das „Unvorstellbare, eingerichtet und exekutiert von der SS. Die Gefangenen starben langsam, gequält von Unterernährung und Krankheiten, jeden Morgen ein Haufen Leichen aufgestapelt vor den Barracken.“

Sie beschreibt, wie sie ihre Mutter das letzte Mal sah, am 21. November 1944. „Wir standen schon ohne Kleider zusammen mit einer Gruppe von anderen Frauen vor der Gaskammer. Als es für mich eine Gelegenheit gab, zurück zu den Baracken zu laufen, drängte meine Mutter mich, sie zurück zu lassen“, berichtet die Überlebende.

Stutthof sei „organisierter Massenmord“ gewesen, „ermöglicht mit Hilfe der Wachmänner“, vor deren Augen sich alles abspielte. „Fast hätte der Angeklagte erfolgreich dazu beigetragen, dass auch ich ermordet wurde.“ Er müsse sich jetzt, sagt Judy Meisel, der Verantwortung stellen für das, was er getan habe, als er in Stutthof war – dafür, dass er „mitgeholfen hat, meine geliebte Mutter zu ermorden, die ich mein ganzes Leben lang vermisst habe“.

Johann R. blickt regungslos nach vorne. Bislang hat er stets jede Schuld und jede Verantwortung von sich gewiesen, will nichts gesehen und nichts bemerkt haben. Als LKA-Beamte ihn im August 2016 zu seiner Tätigkeit im KZ befragten, schlug er ganz unbekümmert in der Vernehmung einen Namen nach – ausgerechnet im Buch eines Holocaust-Leugners. Die Beamten bemerkten nicht, was für Literatur Johann R. nutzte, und fanden es auch später nicht heraus.

Der Moment, als Johann R. sein Gesicht bedeckt

Nun kündigen seine Anwälte eine Einlassung des Mandanten an, diese solle aber erst erfolgen, wenn ein Gutachten eines Sachverständigen über den Stutthof-Komplex vorliege.

Einen Moment gab es, da sah es so aus, als erschüttere der verlesene Bericht einer Zeugin den Angeklagten – er nahm die Hand vors Gesicht, wie ein Mensch, der sich schämt. Ob die Zeugenaussagen eine Wirkung auf ihn gehabt hätten, wird sein Verteidiger Andreas Trinkl nach der Verhandlung gefragt. „Auf mich jedenfalls schon“, weicht er aus. „Aber ich kann nicht in den Kopf anderer Leute gucken.“

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